EDA 8: Viktor Ullmann: Cornet / Schönberg-Variationen, Arnold Schoenberg: Ode an Napoleon / Sechs kleine Klavierstücke
IV: Arnold Schoenberg – "Ode to Napoleon Buonaparte" for Speaker, String Quartet, and Piano op. 41 (1942)
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EDA 8: Viktor Ullmann: Cornet / Schönberg-Variationen, Arnold Schoenberg: Ode an Napoleon / Sechs kleine Klavierstücke
I: Viktor Ullmann – Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1944)

1 Twelve Pieces from Rilke's Poem for Speaker and Piano EDA 8: Viktor Ullmann: Cornet / Schönberg-Variationen, Arnold Schoenberg: Ode an Napoleon / Sechs kleine Klavierstücke
I: Viktor Ullmann – Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke (1944)
1 Twelve Pieces from Rilke's Poem for Speaker and Piano

II: Arnold Schoenberg – Six Litlle Piano Pieces op. 19 (1911)

2 Six Little Piano Pieces EDA 8: Viktor Ullmann: Cornet / Schönberg-Variationen, Arnold Schoenberg: Ode an Napoleon / Sechs kleine Klavierstücke
II: Arnold Schoenberg – Six Litlle Piano Pieces op. 19 (1911)
2 Six Little Piano Pieces

III: Viktor Ullmann – Variations and Double Fugue on a Theme by Arnold Schoenberg for Piano op. 3a (1925/34)

3 Variations and Double Fugue EDA 8: Viktor Ullmann: Cornet / Schönberg-Variationen, Arnold Schoenberg: Ode an Napoleon / Sechs kleine Klavierstücke
III: Viktor Ullmann – Variations and Double Fugue on a Theme by Arnold Schoenberg for Piano op. 3a (1925/34)
3 Variations and Double Fugue

IV: Arnold Schoenberg – "Ode to Napoleon Buonaparte" for Speaker, String Quartet, and Piano op. 41 (1942)

4 Ode to Napoleon Buonaparte EDA 8: Viktor Ullmann: Cornet / Schönberg-Variationen, Arnold Schoenberg: Ode an Napoleon / Sechs kleine Klavierstücke
IV: Arnold Schoenberg – "Ode to Napoleon Buonaparte" for Speaker, String Quartet, and Piano op. 41 (1942)
4 Ode to Napoleon Buonaparte

Die Schönberg-Variationen

"Der sogenannte große Erfolg kam 1929 auf dem internationalen Musikfest in Genf, hier machte die Weltpresse auf mich aufmerksam."

So berichtete Viktor Ullmann später in einem Brief über den Erfolg des Werkes, das seinen Namen als Komponist erstmals über die engen Grenzen seiner Wahlheimat Prag hinaus bekannt gemacht hatte. Die Variationen und Doppelfuge über ein kleines Klavierstück von Schönberg wurden von mehreren Kritikern zu den besten Werken des Festivalprogramms gezählt ("Verheißung und Höhepunkt des ersten Konzertes"). In einem der Feuilletons hieß es sogar, das neue Werk habe seinem Autor "einen ehrenvollen Platz in der Nähe Alban Bergs und Anton von Weberns" gesichert.

Hatte Ullmann bereits durch die Namensnennung im Titel seine besondere Beziehung zur Person und zur Musik Arnold Schönbergs nachdrücklich dokumentiert, so war auch mit der Zuordnung zu den damals bekanntesten Schönberg-Schülern seine Zugehörigkeit zur neuen 'Wiener Schule' zumindest für die Zeitgenossen hinreichend klargestellt.

Die Wahl des 4. Stückes aus dem Klavierzyklus op. 19 als Thema und dessen kompositorische Bearbeitung in einem Variationen-Werk muss in der Tat als Hommage Ullmanns an Arnold Schönberg verstanden werden. Ullmann lernte seinen zukünftigen Meister womöglich schon vor dem Krieg kennen, hatte er doch seinen ersten Theorieunterricht seit 1914 bei Josef Polnauer, einem Vertreter der ersten Schülergeneration Schönbergs, genossen. Polnauers Vermittlung hatte er vermutlich auch die Aufnahme in das kurz vor Kriegsende von Schönberg wiedereröffnete 'Seminar für Komposition' zu verdanken. Spuren dieser engen persönlichen Verflechtung finden sich in der feinsinnigen Zueignung der Variationen: Während Ullmann sicher sein konnte, dass die Wahl des Schönberg-Themas unmittelbar als ehrerbietiger Hinweis auf das Meister-Schüler-Verhältnis verständlich wurde, fügte er der späteren Publikation im Selbstverlag noch die ausdrückliche Widmung "Meinem verehrten Lehrer und Freunde Dr. Josef Polnauer" hinzu. Sie galt dem väterlichen Förderer, der Ullmanns Weg weit über die Entstehungszeit hinaus als aufmerksamer Beobachter und Kritiker begleitet hatte.

Im 'Seminar für Komposition' begann der eben als Leutnant aus dem Krieg zurückgekehrte junge Musiker im Oktober 1918 seine Ausbildung. Bis Mai 1919 studierte er hier neben Kontrapunkt und Harmonielehre die Fächer Formenlehre, Orchestration und Analyse. Eine Anzahl von Selbstzeugnissen unterstreicht die starke persönliche und künstlerische Prägung, die Ullmann während dieser kurzen Studienzeit erfahren hat und deren Nachklang sich beispielsweise noch 20 Jahre später in der folgenden Briefstelle findet: "Der Schönbergschule danke ich strenge – will sagen logische – Architektonik und Liebe zu den Abenteuern der Klangwelt."

Besser noch als in den verschiedenen Äußerungen und Erinnerungen spiegelt sich Ullmanns keineswegs spannungsfreie künstlerische Beziehung zu Schönberg in der stilistischen Haltung und in der wechselvollen Werkgeschichte des Variationen-Zyklus. Das in diesem Werk formulierte ästhetische Bekenntnis hatte freilich wenig mit Schönbergs neuer Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen zu tun. Obwohl das 2. Thema der Doppelfuge zwölftönig konzipiert ist und die Satzbezeichnungen Quasi Gavotte (4. Variation) und Tempo di Menuetta (8. Variation) Anklänge an Schönbergs dodekaphone Suite für Klavier (1925) darstellen, setzte Ullmann mit der Bearbeitung des 'Themas' bei der atonal-expressiven Stilistik an, die Schönberg im Buch der hängenden Gärten nach Stefan George (1908) entwickelt hatte und der auch die Klavierstücke op. 19 angehören.

Für die variative Entfaltung des aphoristischen 4. Stückes aus op. 19 bediente er sich fast ausschließlich alter, aus der vorklassischen Polyphonie bekannter Satztechniken. Ein schönes Beispiel für die einfache Imitation zeigt die 5. Variation. Ihre an eine zweistimmige Invention erinnernde Einleitung lässt die im Kanon geführten Stimmen deutlich hörbar hervortreten. Dagegen erscheint das kontrapunktische Kunststück in den Anfangstakten der 1. Variation dem 'naiven' Hören geradezu verschlossen: Hier erklingt das Schönberg-Thema gleichzeitig mit seiner rückläufig-gespiegelten Gestalt in der Unterstimme. Neben der dichten kontrapunktischen Führung der Stimmen bildet die entwickelnde motivische Arbeit in allen Variationen eine weitere Grundlage des musikalischen Satzes. Seine höchste Verdichtung erfährt dies Prinzip – die oben zitierte "strenge – will sagen logische – Architektonik" – in der Schlussfuge. Nach der Durchführung der Themen mit allen Künsten der Imitation, des Krebses und der Umkehrung gelingt Ullmann hier eine letzte Steigerung, indem er das ganze Schönberg-Thema in einer modifizierten Wiederholung dem Stimmengeflecht des polyphonen Baus kurz vor dessen Ende einfügt.

Die in zeitlicher Nachbarschaft zu den Schönberg-Variationen entstandenen Kompositionen (1. Streichquartett, Oktett, Symphonische Phantasie) lassen Ullmanns früh einsetzendes Streben nach stilistischer Eigenständigkeit erkennen. Aufmerksam wurden die Stationen dieser behutsamen Lösung vom dominierenden Einfluss Schönbergs in zeitgenössischen Aufführungsberichten registriert. In einer Besprechung des (verlorenen) 1. Streichquartetts bemerkte der Rezensent über den damaligen kompositorischen Entwicklungsstand Ullmanns, "daß er längst kein Schönbergschüler mehr" sei, "sondern ein Künstler, der wohl durch die Grammatik seines Lehrers hindurchgegangen ist, aber [...] mit großer Leidenschaft bei lapidarer Klarheit ein Werk hinstellt, dessen Plastik sich jedem Zuhörer mitteilt".

Ursprünglich bestand der Klavierzyklus aus 5 Variationen und der abschließenden Doppelfuge. Zum Genfer Festival entstand eine neue Fassung, die zwar Verbesserungen im Detail brachte, das formale Konzept (5 Variationen) aber nicht grundlegend veränderte. Erst 1933/34 erfolgte die Erweiterung auf 9 Variationen. Damit erhielt das Werk die Gestalt, in der es – gedruckt und mit der Opuszahl 3a versehen – erhalten geblieben ist und in der vorliegenden Einspielung erklingt.

Zwar legte Ullmann gleichzeitig noch eine instrumentierte Fassung vor (Hertzka-Preis 1934); doch deuten alle Anzeichen darauf hin, dass er die Schönberg-Variationen nun als zu einem endgültig abgeschlossenen Kapitel seiner Komponistenlaufbahn gehörend betrachtete. Seine neuen Werke, insbesondere die Oper Der Sturz des Antichrist (1935) und die 1. Klaviersonate (1936), zeigen einen ausgereiften persönlichen Stil, der wohl konstruktive und expressive Elemente beibehält, der Atonalität jedoch eine konsequente Absage erteilt. Den harmonischen Aspekt der lange angestrebten und Mitte der 30er Jahre schließlich gefundenen Synthese hat Ullmann – wiederum in einem Brief – wie folgt umschrieben: "Es mag darum gehen, die unerschöpften Bereiche der tonal funktionellen Harmonik zu ergründen oder die Kluft zwischen der romantischen und der "atonalem Harmonik auszufüllen" (1938).

Ingo Schultz


Die Cornet-Komposition

Jeder Versuch einer Beurteilung und Einordnung der Cornet-Komposition muss von der radikalen Veränderung der Lebenssituation ausgehen, die Ullmann im Herbst 1942 aufgezwungen wurde. Ein Vergleich mit der Entstehungszeit der Schönberg-Variationen lässt die Unterschiede der Lebensverhältnisse und Schaffensbedingungen in aller Schärfe hervortreten. Als er das Variationenwerk 1925 schrieb, stand Ullmann am Anfang einer verheißungsvollen Doppellaufbahn als Kapellmeister und Komponist. In der gesicherten Position eines Opernkapellmeisters am Neuen deutschen Theater in Prag, einer der vitalsten europäischen Musikmetropolen der Zwischenkriegszeit, konnte er seine musikalischen Talente ungehindert entfalten. Seit dem 8. September 1942 gehörte er der Zwangsgemeinschaft nach Theresienstadt deportierter Juden an, in der er in verschiedenen Funktionen an der Gestaltung einer kulturellen Idee ('Freizeitgestaltung') mitwirkte, unerträglichen Lebensbedingungen und der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Lager-SS zum Trotz. Der Cornet, der im Juli 1944 entstand, war das letzte größere Werk, das er – drei Monate vor seinem gewaltsamen Tod in Auschwitz – vollenden konnte.

Theresienstadt wurde von der Nazi-Propaganda zwar als 'Vorzugslager 'oder gar als 'jüdische Mustersiedlung' mit blühendem Kulturleben ausgegeben. In seiner tatsächlichen Funktion als Sammellager und Durchgangsstation zu den Vernichtungslagern im Osten unterschied es sich jedoch kaum von anderen Konzentrationslagern im deutschen Herrschaftsbereich.

Bis zu 60.000 Menschen waren zeitweise in der ehemaligen österreichischen Garnison zusammengepfercht. In qualvoller Enge mussten sie sich in den riesigen Sälen der Kasernen oder in den bis zu den Dachböden belegten Häusern einrichten. Manche wurden schon bald nach der Ankunft in einen anderen Transport 'eingereiht' und weiter nach Osten 'verschickt'. Von denen, die längere Zeit blieben, zerbrachen viele unter schwerer Arbeit, an mangelhafter Ernährung und an Krankheiten, die bei schlechten hygienischen Verhältnissen ausbrachen und wegen fehlender ärztlicher Versorgung nicht geheilt werden konnten. Die meisten litten unter Depressionen, wenn sie sich an vergangene Zeiten erinnerten, und unter Ungewissheit und Angst, wenn sie an die Zukunft dachten.

Viktor Ullmann hat in dieser extremen Situation, wie nur wenige andere, seine menschliche und künstlerische Integrität gewahrt. Mehr noch: Er stellte seine Kräfte und Fähigkeiten selbstlos in den Dienst der sogenannten 'Freizeitgestaltung', die trotz anfänglichen Verbots durch die SS seit 1942 Höchstleistungen in allen kulturellen Bereichen hervorbrachte. Musikalische Veranstaltungen – vom Klavierabend bis zur Opernaufführung – wurden im 'Ghetto' mit großer Begeisterung und Dankbarkeit aufgenommen, schienen sie vor allem doch dazu geeignet, den Lebensmut und die Widerstandskraft der Gefangenen zu stärken. Ullmann war an der Realisierung vieler künstlerischer Projekte beteiligt. Gleich nach der Ankunft in Theresienstadt übernahm er die Leitung des 'Studios für neue Musik'; später organisierte er die Auftritte des 'Collegium musicum', trat selbst als Pianist und Dirigent auf, schrieb Veranstaltungskritiken und komponierte.

Wie die Bilder der Theresienstädter Maler, so tragen viele seiner Kompositionen die Zeichen der Auseinandersetzung mit dem Elend und dem alltäglichen Grauen des Lagerlebens. Eine Erfahrung beschäftigte ihn vor allen anderen – der Tod. Klang sie in den frühesten Theresienstädter Liedern (Schnitterlied nach C. F. Meyer, Herbstlied nach G. Trakl) erst ahnungsvoll an, so nahm sie im (später verworfenen) Menuett der 5. Klaviersonate bereits greifbare Gestalt an und wurde beim Namen genannt. Mit jenem Totentanz und mit dem Lied Der müde Soldat ("...bin müde von dem vielen Tod") orientierte sich Ullmann auf sein zentrales Theresienstädter Werk, die Oper Der Kaiser von Atlantis. In dieser "Legende in vier Bildern" gebietet der Tod dem kriegerischen Treiben Einhalt, indem er sich weigert, die Menschen sterben zu lassen. Der Krieg schlägt in Aufruhr wider den Tyrannen um. Seines wirksamsten Machtmittels – der Todesdrohung – beraubt, wandelt sich der allmächtige Imperator zu einem sein Scheitern beklagenden ohnmächtigen Menschen. Ullmann und sein Librettist Petr Kien hatten mit dieser Szenerie die utopische Situation von der "menschlichen Ohnmacht des Tyrannen" entworfen, um damit eine denkbare Voraussetzung für den Sturz der realen Diktatur der Nazis aufzuzeigen. Diese Perspektive sollte des weiteren den Theresienstädter Gefangenen einen hoffnungsvollen Blick auf das Ende der gemeinsamen Leidenszeit eröffnen. Doch auch der Tod erscheint gewandelt: Der vormals unerbittliche Sensenmann tritt am Ende der "Kaiser"-Oper als der "Gärtner Tod" auf, als Tröster und Helfer der leidgeprüften Menschheit. ("Bin der, der von der Pest befreit, und nicht die Pest. Bin, der Erlösung bringt von Leid, nicht, der euch leiden läßt.")

In den letzten Monaten der Internierungszeit scheint sich Ullmanns Todes-Bild nochmals gewandelt zu haben. Spürt man im Kaiser das Bestreben, dem Tod vor dem Hintergrund der Lagererfahrung seine humanen Züge und seine Würde zurückzugeben, so scheint das Sterben in den beiden folgenden Werken seine Schrecken vollends verloren zu haben. Die Jeanne d'Arc-Oper, von der er nur noch das Libretto vollenden konnte, und der Cornet enden zwar mit dem Tod der Protagonisten, doch der individuelle Tod tritt nun hinter einer Idee, die überlebt, zurück. Das Verständnis für diese neue, fast optimistische Sicht und ihre kämpferischen Untertöne erschließt sich aus den folgenden Anmerkungen zur persönlichen Situation Ullmanns und zu den kriegerischen Ereignissen im Sommer 1944.

Möglicherweise stand die Entscheidung für die Bearbeitung des Cornet-Stoffs unter dem Eindruck eines Todesfalls in seiner nächsten Umgebung: Am 2. Juni 1944 starb der junge Komponist Siegmund Schul, den Ullmann schon in Prag kennengelernt und dessen künstlerischen Werdegang er wie ein älterer Bruder begleitet hatte. Entscheidende Impulse dürften jedoch von zwei 'Sondermeldungen' ausgegangen sein. Über das Informationssystem des 'Ghettos' verbreiteten sich die Nachrichten von der Landung der Westalliierten (6. Juni) und vom Beginn der sowjetischen Großoffensive gegen die deutsche Heeresgruppe Mitte (22. Juni) in Windeseile. Im Sog der daraufhin ausbrechenden euphorischen Stimmung und im Vorgefühl der erhofften baldigen Befreiung schrieb Ullmann seinen Cornet in kaum mehr als drei Wochen. Welche besondere Bedeutung er dieser Arbeit und ihrer kurzfristigen Fertigstellung beimaß, wird allein daraus ersichtlich, dass er zugunsten des Melodrams die Beschäftigung mit einer anderen Komposition zurückstellte. Im Juni 1943 hatte er in einem Brief von Entwürfen zu einem neuen, seinem 4. Streichquartett berichtet. Da es im Theresienstädter Nachlass nicht nachgewiesen werden konnte, galt dies Werk als nicht ausgeführt bzw. verloren. Tatsächlich blieb aber, wie sich erst kürzlich herausstellte, ein Satz erhalten, dessen ursprüngliche Bestimmung freilich dadurch fast unkenntlich geworden war, dass Ullmann ihn in einen völlig neuen musikalischen Bezugsrahmen gestellt hatte. Jener vermutlich einzige vollendete Satz des 4. Streichquartetts, ein "Allegro con brio", begleitete nun die Szene "Die Turmstube ist dunkel" (2, IV), den lyrischen Höhepunkt des Melodrams. (Die Manuskripte der erhaltenen Theresienstädter Kompositionen Ullmanns werden am Goetheanum in Dornach aufbewahrt. Marcus Gerhardts, der diesen Nachlass betreut, hat zuerst auf diesen hier angesprochenen Zusammenhang zwischen dem 4. Streichquartett und dem Cornet hingewiesen.)

Nach Abschluss der Arbeit am 12. Juli fand Ullmann in dem Pianisten und Dirigenten Rafael Schächter und dem Schauspieler Fritz Lerner die Interpreten für eine heute nicht mehr feststellbare Zahl von Aufführungen bis Ende September.

Der Cornet gehört der Gattung des freien Melodrams an. Im Unterschied zum gebundenen Melodram, in dem Rhythmus und melodischer Verlauf des Vokalparts über weite Strecken festgelegt sind (Humperdinck, Schillings, Schönberg), lässt Ullmann den Rilke-Text von einem Sprecher in freier Deklamation vortragen. Jedem der 12 'Stücke' unterlegt er einen vom jeweiligen Handlungsabschnitt und dessen Stimmung inspirierten, formal streng gestalteten musikalischen Ablauf. Einprägsame Motive verbinden die voneinander abgesetzten, in sich geschlossenen Einzelformen zu einer zyklischen Gestalt. So kehrt beispielsweise das Anfangsmotiv ("Reiten...", 1, II) in 1, V und 2, VIII wieder, d. h. in den Final-Abschnitten der beiden Hauptteile. Ähnlich werden der Mittelteil von 1, III ("Jemand erzählt von seiner Mutter") sowie die Anfangstakte von 2, III ("Einer, der weiße Seide trägt") und 2, V (" Ist das der Morgen?") durch ein Quarten-Motiv miteinander verknüpft. Eine äußere Schicht mit teilweise extremen Kontrasten des musikalischen Ausdrucks überlagert dieses verborgene Netzwerk untergründiger Beziehungen: Neben den von weiten Melodiebögen beherrschten, lyrischen Stücken (1, V "Der von Langenau schreibt einen Brief" und insbesondere 2, IV "Die Turmstube ist dunkel") stehen Abschnitte mit wilden Rhythmen in ungeraden Taktarten (5/4, 5/8) und mit dramatischen Steigerungen (1, IV "Ein Tag durch den Troß"; 2, VII "Er läuft um die Wette"), aber auch Charakterstücke wie der Walzer in 2, II ("Als Mahl beganns") oder die Exposition eines Marsches, der von der Handlung sozusagen überrollt wird (2, VI "Aber die Fahne ist nicht dabei").

In der Gestaltung der Großform weckt Ullmanns Werk die Vorstellung eines Zyklus von 'Liedern ohne Gesang', dessen musikalischer Satz an vielen Stellen allerdings bis in die Sphären sinfonischer Themen-und Motivverarbeitung vorstößt, wie etwa im groß angelegten Finale des ersten Hauptteils. Die orchestrale Konzeption belegt mit hinreichender Deutlichkeit, dass der Komponist bereits während der Niederschrift an eine klangliche Realisierung gedacht hat, die jenseits der begrenzten Theresienstädter Möglichkeiten lag. Doch die weit vorausgreifenden Pläne wurden von der Wirklichkeit eingeholt. Ullmanns Orchesterpartitur bricht nach 12 Takten in 1, III ("Jemand erzählt von seiner Mutter") ab. Am 28. September sollte der Cornet noch einmal aufgeführt werden; das Konzert wurde jedoch abgesagt, denn Fritz Lerner, der Sprecher, musste an diesem Tag im ersten der berüchtigten 'Herbsttransporte' den Weg nach Auschwitz antreten. Ullmann wurde knapp drei Wochen danach selbst Opfer der Liquidation des Konzentrationslagers Theresienstadt. Mit seiner Frau, der er den Cornet noch zum 44. Geburtstag widmen konnte ("Zum ... Geburtstag meiner Elly, die immer 'mit dem Jahrhundert' geht. 27.9.1944."), kam er am 16. Oktober in den Transport nach Auschwitz, wo beide zwei Tage später in der Gaskammer ermordet wurden.

Gewiss wäre es falsch, Ullmanns letzte Kompositionen als Schlusssteine seines Lebenswerks zu betrachten oder sie gar zu 'Spätwerken' zu verklären. Zu viele angefangene Projekte blieben als Torso zurück, und niemand wird jemals sagen können, wie seine kompositorischen Zukunftspläne aussahen. Die erhaltenen Werke weisen ihn jedoch als einen Künstler aus, der sein Leben lang versucht hat, mit seiner Musik Antworten auf die Grundfragen seiner Zeit zu finden. Die Antwort, die seine Cornet-Komposition gibt, wurde freilich nicht erst unter dem Eindruck der leidvollen Theresienstädter Erfahrungen formuliert. Ullmann hatte sie bereits Mitte der 30er Jahre – nach der ersten Begegnung mit dem nationalsozialistischen Terror – in seinem anthroposophischen Tagebuch in Versen niedergeschrieben:

"Was liegt an mir!
Ein Kämpfer fiel –
das Schlachtpanier
weht einst am Ziel ... "

Ingo Schultz


Arnold Schönbergs 'Ode to Napoleon Buonaparte' op.41

Dimension

"Lieber Freund, ich freue mich, daß Sie aus der Hölle entkommen konnten. Demgegenüber ist ja doch alles ein Himmelreich, wie wenig es auch danach aussehen mag". So beginnt Schönberg seinen Brief vom 26. Februar 1940 an Adolf Rebner, den gerade in die USA emigrierten früheren Konzertmeister des Frankfurter Opernorchesters. Diese Erfahrung des Exilierten: die erlebte Spanne von der 'Hölle' des Holocaust zum 'Paradies' des Lebens in Freiheit ist auch die Dimension der Ode to Napoleon Buonaparte von Lord Byron, wie Schönberg sie im Jahre 1942 las, verstand und komponierte. Das Ende einer totalitären Diktatur, der Weg zur Freiheit in der Demokratie, die geschichtliche Dynamik dieses Prozesses – all das konnte als Projektion dem Text entnommen und in der Komposition als Form entfaltet werden. Im Gedicht wird diese Dimension durch zwei Namen repräsentiert: Da ist auf der einen Seite Napoleon – in achtzehn Strophen mit Verachtung, Hass und Hohn geradezu überschüttet, und da ist auf der anderen Seite George Washington – in der Schlussstrophe als große (wenn nicht einzige) Hoffnung hymnisch apostrophiert. Schönbergs Ode-Melodram aktualisiert diese geschichtliche Konstellation. Die Komposition setzt sich als ein künstlerisch-politisches Manifest zum Krieg gegen den europäischen Faschismus, ist der Versuch eines engagierten Kommentars im Medium der Kammermusik. Die Verschränkung von politisch-populären und artistisch-esoterischen Elementen allerdings tangiert beides: die musikalische Konstruktion und die politische Botschaft, das Werk und seine Wirkung.

Doppelter Anlass

Der erste Ausgangspunkt für die Komposition der Ode war rein künstlerisch: 1941 erhielt Schönberg von der amerikanischen 'League of Composers' den Auftrag, ein Kammermusikwerk zu schreiben. Und die Entscheidung des Komponisten für ein Klavierquintett dürfte im Gedanken an Interpreten getroffen worden sein, die ihm persönlich und künstlerisch am nächsten standen: den Pianisten Eduard Steuermann und Rudolf Kolisch mit seinem Streichquartett.
Der zweite Ausgangspunkt für die Komposition der Ode war politisch. Am 7. Dezember 1941 erfolgte der japanische Luftangriff auf Pearl Harbor, einen Tag später trat die USA in den Krieg ein. Schönbergs damaliger Assistent Leonard Stein erinnert, dass beide am Radio Präsident Roosevelts 'day of imfamy'-Rede vom 8. Dezember 1941 hörten und dass Schönberg unter ihrem Eindruck die Idee zu einer politischen Komposition fasste – einem patriotischen Bekenntnis zu seinem neuen Heimatland, einem Werk, das den Krieg, die politische Ideologie seiner Urheber und deren Überwindung zum Thema haben sollte. Als beide Ausgangspunkte miteinander verbunden wurden, erhielt das Auftragswerk der 'League of Composers' seine aktuelle Dimension.

Kerngedanke

Den Kerngedanken seiner Auffassung der Ode als politische Parabel hat Schönberg selbst angesprochen: die faschistische Ideologisierung eines Volkes, das seinem nach Weltherrschaft strebenden 'Führer' blindlings ergeben ist und das selbst auf einer primitiven, allein der 'Rassenerhaltung' dienenden Erkenntnisstufe gehalten wird. Der Bienenstaat oder der Ameisenhügel dienten Schönberg als Vergleichs-Modelle. In einem Essay von 1943 "Wie ich dazu kam, die Ode to Napoleon zu schreiben" formulierte er [original englisch]: "Ich hatte lange über die tiefere Bedeutung der Nazi-Philosophie nach-gedacht. Ein Element gab mir besonders zu denken: das Verhältnis des Lebens des Einzelnen zu den Werten der Gemeinschaft oder ihres Repräsentanten, der Königin oder des Führers. Ich konnte nicht einsehen, warum eine ganze Generation von Bienen oder von Deutschen lebte, nur um eine andere Generation derselben Art zu produzieren, mit dem einem Ziel nur: die Rasse am Leben zu erhalten". Und, fügt er dann hinzu, "um die Weltherrschaft zu erlangen". Ohne einen solchen Endzweck aber erscheine "das Leben der Bienen, mit dem Töten der Drohnen und der Tausende von Nachkommen der Königin, sinnlos. Ähnlich würden die Opfer des deutschen Herrenvolks sinnlos sein ohne das Ziel der Weltherrschaft".
Der Essay ist Fragment geblieben und daher weder gedanklich vollendet noch sprachlich völlig durchgefeilt. Durch ihn aber erfahren wir auch, dass Schönberg in der Tat zunächst Maeterlincks Leben der Bienen konsultierte, um eine Vorlage für seine Komposition oder doch wenigstens Ideen für einen Text zu finden. Doch die fin-de-siècle-Haltung der Maeterlinckschen Prosa, die Schönberg einst so fasziniert hatte, erschien nun ungeeignet. In einer veränderten geschichtlichen Lage ließ sie Schärfe, Schroffheit, Fähigkeit zur entschiedenen Negation vermissen: "Maeterlincks poetische Philosophie vergoldete alles was noch nicht selbst Gold war ... Ich mußte für meinen Zweck ein anderes Sujet finden". Dieses andere Sujet war die Personalisierung, die Attacke auf den Tyrannen, den 'Führer' und dessen Überwindung durch das positive Gegenbild. Schönberg fand es bei Lord Byron.

Entstehung

Schönberg begann die Komposition der Ode im Februar 1942. Nach dem Fehlschlag mit Maeterlinck konzentrierte sich die Suche nach einem Text auf Lord Byron. Das war ein für die Freiheitsthematik der geplanten Komposition gewiss schon durch seine Biographie ausgewiesener Autor, dessen Gesammelte Gedichte (in der deutschen Übersetzung in 'Meyers Klassikern') Schönberg übrigens in seiner aus Europa ins Exil geretteten Bibliothek besaß. Wiederum Leonard Stein berichtet, dass er mit Schönberg zu Campbells' Bookstore im Westwood Village fuhr und dort eine englische Byron-Ausgabe kaufte: Gerade für diese Komposition und ihre beabsichtigte Wirkung in den USA musste auf jeden Fall ein englischer Text gefunden werden. Nachdem Schönbergs Interesse zunächst Byrons The Isles of Greece (aus dem Canto III des Don Juan) galt, fiel die Wahl endlich (entgegen dem Rat literarischer Experten) auf die Ode to Napoleon Buonaparte.
Schönberg arbeitete an der Komposition mit großer Intensität und mit einem selbst für ihn außerordentlichen Aufwand an handwerklicher Grundlegung. Die große Zahl der überlieferten Skizzen und insbesondere die in mehreren Skizzen dokumentierte ungewöhnlich detaillierte analytische Befassung mit dem Gedicht belegen das. In der Erstniederschrift der Partitur erscheint als Anfangsdatum der 12. März 1942, Enddatum ist der 12. Juni 1942. Nach anfänglichem Zögern nahm der Verlag G. Schirmer das Werk im Sommer 1943 zur Publikation an.
Durch die Initiative des Verlages wurde Schönberg dann dazu bestimmt, die Ode auch für Streichorchester zu bearbeiten. Artur Rodzinski, seinerzeit Music Director der New Yorker Philharmoniker, war bereit, mit seinem Orchester die Uraufführung zu übernehmen. Die Aussicht auf eine derart prominente Aufführung in Carnegie Hall, mit der üblichen landesweiten Radio-Übertragung des Konzerts am Sonntagnachmittag, war verlockend – gerade bei diesem Werk und seiner intendierten Breitenwirkung. Schönberg fügte der Quartett-Partitur eine separate Kontrabass-Partie hinzu und bereicherte den orchestralen Quartett-Klang durch Unterscheidungen von Tutti und Soli sowie Teilungen der Pulte. Der zentrale Notentext sowie die Partien von Sprecher und Klavier blieben jedoch unangetastet. Zeitlebens bevorzugte Schönberg selbst das kammermusikalische 'Original'. Die Uraufführung der Ode erfolgte am 23. November 1944 in der Streichorchester-Version durch Mack Rarrell (Sprechstimme), Eduard Steuermann (Klavier) und die New Yorker Philharmoniker unter der Leitung von Artur Rodzinski. Das Konzert galt als Teil einer landesweiten Ehrung Schönbergs aus Anlass seines 70. Geburtstags. Das Wiederholungs-Konzert vom 26. November war als Radioübertragung in den gesamten USA zu empfangen.

Probleme mit dem Text

George Gordon Lord Byron schrieb seine vehemente politische Abrechnung mit Napoleon im hohen Stil der Ode am 10. April 1814, einen Tag nach der Abdankung des Kaisers und veröffentlichte sie als aktuellen Kommentar bereits am 16. April. (Die drei letzten Strophen sind später hinzugefügt.) Es ist kein großes Gedicht. Und Kritiker der Schönbergschen Komposition haben seit der Uraufführung nicht vergessen, die Weisheit seiner Textwahl zu bezweifeln. Zwei Problemkreise vor allem sind bedenkenswert, weil sie die beabsichtigte Breitenwirkung beeinträchtigen und der intendierten Bestimmung als einer politischen Parabel entgegenwirken.
Da ist erstens die Sprachform des Gedichts selbst, sind die mannigfachen mythologischen Anspielungen, das altertümliche Englisch, die Fülle der vom normalen Idiom abweichenden Wendungen, die vielen rätselhaften Bilder, die metrisch oder durch das Reimschema bewirkten sprachlichen Lizenzen, kurz: der enorme Bildungsanspruch und die poetisch erhöhte Rede, die ein direktes Verstehen, vor allem den Nachvollzug von Details während einer Aufführung, außerordentlich erschweren. (Andererseits darf nicht unterschätzt werden, daß und wie stark der hymnische Ton der Byronschen Tiraden den 'Ton' der Ode-Musik Schönbergs beeinflusst hat, ihr spezifisches Pathos, ihre Expressivität, den dramatischen Puls ihres Bewegungszuges.)
Und da ist zweitens die problematische Parallelsetzung von Napoleon mit Hitler/Mussolini. Byron war zunächst, wie viele Intellektuelle seiner Epoche, ein Verehrer Napoleons. Seine beißende Napoleon-Kritik dokumentiert auch und vor allem einen Hass aus Enttäuschung. Auf Hitler lässt sich eine solche Affinität nicht übertragen. Schon gar nicht für Schönberg, der bereits 1923 in seinem großen Brief an Wassilij Kandinsky die tödliche Gefahr benannte, die von dem Ideologen Hitler ausging (es ist ein prophetischer Brief, der jene Situation, aus der dann die Ode hervorgehen sollte, hellsichtig und stolz vorwegnimmt). Anders als Kandinsky werde Hitler mit ihm als Juden keine Ausnahme machen, schreibt Schönberg am 23. Mai 1923 und fügt hinzu: "Wozu aber soll der Antisemitismus führen, wenn nicht zu Gewalttaten? Ist es so schwer, sich das vorzustellen? Ihnen genügt es vielleicht, die Juden zu entrechten. Dann werden Einstein, Mahler, ich und viele andere allerdings abgeschafft sein. Aber eines ist sicher: Jene viel zäheren Elemente, dank deren Widerstandsfähigkeit sich das Judentum 20 Jahrhunderte lang ohne Schutz gegen die ganze Menschheit erhalten hat, diese werden sie doch nicht ausrotten können. Denn sie sind offenbar so organisiert, daß sie die Aufgabe erfüllen können, die ihnen ihr Gott angewiesen hat: Im Exil sich zu erhalten, unvermischt und ungebrochen, bis die Stunde der Erlösung kommt!" In der Tat: Napoleon ist nicht Hitler. Das aber lässt nur eine selektierende, akzentuierende 'Lesung' der Ode aus der Perspektive des 2. Weltkriegs zu: Die Ode ist politische Parabel in dem weiteren Sinn als leidenschaftlicher Appell gegen Tyrannenturn und als Ausblick auf eine befreite Menschheit. Schönberg hat das gewiss gespürt. Wenn er selbst Hitler und Mussolini als aktuelle Zielpunkte der Ode nennt, stellt er dies als ein mögliches Rezeptionsphänomen dar: "Am 26. November dieses Jahres wird ein neues Werk von mir im Rundfunk übertragen werden: Ode to Napoleon Buonaparte von Lord Byron. Viele Leute werden es auf Hitler und Mussolini beziehen" (Brief an Hans Nachod vom 29.8.l944). Auf die Leistung, diese neunzehn Strophen zu je neun Zeilen, diese "170 verschiedenen Schattierungen von Ironie, Verachtung, Sarkasmus, Parodie, Haß und Entrüstung" musikalisch effektvoll umgesetzt zu haben, war Schönberg besonders stolz (Brief an Orson Welles vom 13.9.1943).
Die Ode war Schönbergs erste poetische Textvorlage in englischer Sprache, der Sprache seines neuen Landes, die ihm doch eine Fremdsprache war. Schönberg muss das als eine besondere Herausforderung empfunden haben. (Das frühere Kol Nidre nutzt zwar ebenfalls einen englischen Text, ist aber als liturgische, also ursprünglich hebräische Vorlage ein anderer Fall.) Die überlieferten Quellen zeigen, dass er zunächst das Gedicht selbst sprachlich, metrisch-syntaktisch, motivisch und formal analysiert hat – mit einer ungewöhnlichen Umsicht und Intensität. Die Schreibmaschinen-Abschrift des Gedichts diente Schönberg als direkte Vorlage beim Komponieren. Der Text ist vielfach und mehrfarbig annotiert. Die Eintragungen betreffen in einer ersten, einfachen Schicht Übersetzungen unbekannter Worte (z. B. 'Zauber' zu 'spell') oder Verse; eine zweite Schicht ist bereits analytisch, sie betrifft die Identifizierung zentraler Text-Motive, identischer oder analoger Worte, Bilder, Vorstellungen. Der Hinweis 'important motive' gehört hierher, ebenso 'theme of line 1'. Letzteres ist bereits verbunden mit der dritten Schicht, der Bestimmung von musikalischen Charakteren; diese Themen, Motive oder Texturen und ihre variierten Wiederholungen sind durch Buchstaben bezeichnet (z.B. A1, A2). Eine vierte Schicht von handschriftlichen Zusätzen betrifft schließlich die musikalischformale Planung: der eingerahmte Vermerk 'interlude' zum Beispiel, das 'secco recitative', oder 'meas. 19', wobei letzterer bereits komponierte Takte voraussetzt. Für keines seiner deutschen Vokalwerke ist bei Schönberg eine derart detaillierte Gedicht-Analyse überliefert – für keinen deutschen Text war diese Sorgfalt nötig gewesen.

Die deutsche Sprechstimme

Die Anregung kam im Herbst 1944 vom Verlag. Das 'Office of War Information' zeigte Interesse, eine Aufnahme der Ode zu machen und sie in den für Deutschland bestimmten Radio-Sendungen, als Anti-Nazi-Propaganda gewissermaßen, zu spielen. Schönberg akzeptierte sofort. Die originale melodramatische Sprechstimme ist jedoch deklamatorisch eine sehr direkte Spiegelung des englischen Textes. Dieser 'englischen' Vokallinie konnte nicht einfach ein deutscher Text unterlegt werden. Schönberg musste daher die melodramatische Rezitation in vielen Details neu komponieren, der deutschen Sprachmelodie anpassen. Gleichzeitig sollte der instrumentale Bereich der Komposition schon aus praktischen Gründen ganz unangetastet bleiben.
Ausgangspunkt für die Übersetzung war die deutsche Version des Gedichts in 'Meyers Klassikern', die sich jedoch in vielfacher Hinsicht als ungenügend erwies. Schönbergs eigene Übertragung zielt auf größere Texttreue gegenüber Byron, leichtere Verständlichkeit und sprachrhythmische Nähe zum englischen Original. Viele Strophen hat Schönberg daher völlig neu übersetzt, keine blieb unverändert. (Natürlich wurde es auch im Deutschen kein literarisch höher stehendes Gedicht...) Dazu machte er hunderte von verbalen Skizzen: Sammeln und Abwägen von Synonymen, verschiedene Versionen einzelner Zeilen, Reimkataloge zu einem bestimmten Ausgangswort (für die Konsonanten manchmal systematisch durch das gesamte Alphabet gehend), sprachrhythmische Varianten, und so fort. Der neue deutsche Text wurde dabei so eng wie möglich an den Sprachduktus des originalen englischen angelehnt. Gleichwohl musste die melodische Führung, musste vor allem das rhythmische Profil der bereits komponierten englischen Sprechmelodie an vielen Stellen geändert werden. Die folgenden Gegenüberstellungen der textlichen und textlich-musikalischen Versionen der 7. Strophe belegen diesen Prozess.

[Deutscher Text 'Meyers Klassiker']
"Der Römer, der mit Bürgerblut
Gekühlt des Herzens Wüten,
Warf weg den Dolch, – in Hauses Hut
Den wilden Trotz zu hüten;
Stolz und mit trotzigem Verachten,
Daß sie geduldet solches Schlachten,
Ihn ließen seinem Brüten.
Sein einz'ger Ruhm, daß er entsagt,
Frei, da noch seine Macht geragt."

[Deutscher Text: Übersetzung von Schönberg]
"Der Römer, wenn sein Haß gestillt,
In Blut gelöscht sein Groll,
Wirft hin die Macht, die ihm nicht gilt
Barbarisch, hoheitsvoll,
Zieht ab, verachtend offen Knechte,
Die er beraubt der Bürgerrechte –
Zahlt so der Freiheit Zoll.
Moralisch doch sei er geschätzt,
Der zwangfrei Macht durch Recht ersetzt."

Musikalisch machten veränderte Wortstellung eine Neukomposition nötig und beeinflussten den Rhythmus. Die deutsche Sprechstimme hat Schönberg nach dem Krieg dem Verlag Schirmer für Aufführungen in deutschsprachigen Ländern übergeben, er hat sie unter anderem auch den Dirigenten Hermann Scherchen und Hans Rosbaud zur Aufführung empfohlen. Sie ist nie gedruckt worden. Ihre Erstveröffentlichung ist 1996 in Band 24 der Arnold Schönberg Gesamtausgabe erfolgt.

Spätstil

Schönbergs Spätstil gehorcht nicht dem Goetheschen Diktum vom "stufenweisen Zurücktreten aus der Erscheinung". Mit Werken wie der Ode, dem Survivor from Warsaw, den letzten Psalmen und Projekten wie Israel exists again, der Hinwendung also zur aktuellen Politik und zum geistlichen wie politischen Judentum, sind diese späten Kompositionen eingreifend gedacht, sind auf ihre Zeit direkt bezogen, nehmen Stellung. Unzweifelhaft hat die Erfahrung der Vertreibung, die Situation des wegen seines Judentums und seiner Kunst Exilierten diese späte Wendung mit bewirkt. Im Ton sind Schönbergs Spätwerke von unverhüllter, oft eckiger, kantiger Expressivität. Kompositionstechnisch sind sie generell freier, großzügiger in der Handhabung der Reihentechnik, souverän im Verfügen über die gesamte musikalische Tradition.
Es ist oft bemerkt worden, dass Schönbergs späte Werke eine Tendenz 'zurück' zur Tonalität erkennen lassen. Die Ode gilt als prominentes Beispiel. Aber es wäre falsch, ihre tonalen Elemente gegenüber der Reihentechnik als 'Lizenzen' zu begreifen. Vielmehr ist die Reihentechnik der Ode von vornherein auf tonale Strukturen hin angelegt, anders gesagt: die tonale Orientierung ist primär, die Reihentechnik ist ihr angepasst. Und es ist gewiss nicht falsch, in der intendierten Breitenwirkung dieser politischen Kammermusik den Grund für den prominenten Einsatz tonaler Sprachmittel zu sehen. Virgil Thomson hat völlig zu Recht bereits in seiner Uraufführungskritik bemerkt, dass die Musik der Ode nicht atonal, sondern 'polyharmonisch' sei. Die 'tonale' Bestimmung der grundlegenden Sechstonreihe (eine Mischung von 'cis-Moll' und 'F-Dur' ermöglicht die warme akkordische Fülle der Ode-Harmonien. Deren Handhabung ist zudem strategisch-formal: Der gesamte Formverlauf des Werks ist auf den emphatischen Schluss (mit Washington als Ziel) hin angelegt, und seine Klangwelt wird dabei zunehmend fülliger, 'tonaler' und kulminiert ganz am Ende in klarem Es-Dur (der Tonart der Beethovenschen Eroica). Auch stehen am Beginn mehr amorphe, feldhafte Texturen, und die Formentwicklung zielt auf einen mehr und mehr thematisch konturierten Satz, bis schließlich das lange vorbereitete viertönige 'Washington-Motiv' den Höhepunkt herbeiführt. "Per aspera ad astra" -ganz ungebrochen folgt Schönbergs Ode dieser Idee von Form als einem auf den Werkschluss hin gerichteten Prozess, einem sieghaften Ende, das alle Probleme überwindet, transzendiert. Wir kennen diese Formgesinnung aus der großen Wiener Symphonik des 19. Jahrhunderts mit ihrer optimistischen Welthaltung. In der Ode und im Survivor fram Warsaw, seinen beiden explizit antifaschistischen Werken, dient dieser formale plot archetype Schönberg als musikalische Metapher für den Ausbruch aus der Barbarei zur Freiheit. Im Survivor ist es das hebräische 'Schema Israel', das im mächtigen Unisono des Chores als Strahl der Hoffnung erklingt, in der Ode steht endlich das Motiv Washingtons für ein Leben in Freiheit.
Auf den geschichtlichen Ausgangspunkt solcher künstlerisch-politischen Manifestationen im Bereich der Musik aber hat Schönberg in der Ode durch eine Zitat -Kombination hingewiesen, auf die er ein wenig stolz war und für deren hexachordale Ableitung er mehrere Skizzen anfertigte. In der 4. Strophe erklingen zu den Worten "ein welterschütternd' Siegesschrei" in den fünf Instrumenten zwei Motive, die durch ihren dreifachen Auftakt einander verwandt sind: der Anfang der Marseillaise und das Hauptmotiv der 5. Symphonie Beethovens nacheinander, übereinander, in mehreren Kombinationen. Mit dieser Erinnerung an die Französische Revolution und deren frühe künstlerische Spiegelung legitimiert Schönberg sein eigenes Werk und Wirken geschichtlich. In einem Akt moderner Selbstreflexion stellt sich die Ode in die Tradition der großen Freiheitsbewegungen des 3. und 4. Standes, die seit zwei Jahrhunderten Geschichte gemacht hatten und deren Ziele 1942 unverändert aktuell waren. Sie sind es weltweit noch heute.

Reinhold Brinkmann

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