EDA 12: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.1: Visions
X: Arthur Lourié – A Piano in the Children’s Room (1917) Bitte wählen Sie einen Titel, um hineinzuhören
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I: Arthur Lourié – Gigue (1927)
1 Gigue
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II: Arthur Lourié – Valse (1926)I: Arthur Lourié – Gigue (1927) 1 Gigue 2 Valse
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III: Arthur Lourié – Marche (1927)II: Arthur Lourié – Valse (1926) 2 Valse 3 Marche
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IV: Arthur Lourié –Toccata (1924)III: Arthur Lourié – Marche (1927) 3 Marche 4 Toccata
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V: Samuil Feinberg – Berceuse (1932)IV: Arthur Lourié –Toccata (1924) 4 Toccata 5 Berceuse
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VI: Alexander Weprik – Dance (1927)V: Samuil Feinberg – Berceuse (1932) 5 Berceuse 6 Dance
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VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17)VI: Alexander Weprik – Dance (1927) 6 Dance 7 Lentamente
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VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 7 Lentamente 8 Andante
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VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 8 Andante 12 Con eleganza
EDA 12: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.1: Visions
VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 12 Con eleganza 13 Pittoresco
EDA 12: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.1: Visions
VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 13 Pittoresco 14 Commodo
EDA 12: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.1: Visions
VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 14 Commodo 15 Allegretto tranquillo
EDA 12: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.1: Visions
VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 15 Allegretto tranquillo 17 Con vivacitá
EDA 12: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.1: Visions
VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 17 Con vivacitá 20 Feroce
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VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 20 Feroce 21 Inquieto
EDA 12: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.1: Visions
VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 21 Inquieto 24 Con una dolce lentezza
EDA 12: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.1: Visions
VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 24 Con una dolce lentezza 25 Presto agitatissimo e molto accentuato
EDA 12: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.1: Visions
VIII: Lazare Saminsky – Vision (1919)VII: Sergei Prokofiev – Visions fugitives (1915–17) 25 Presto agitatissimo e molto accentuato 27 Vision
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VIIII: Joseph Achron – Statuettes (1930)VIII: Lazare Saminsky – Vision (1919) 27 Vision 28 Allegro
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VIIII: Joseph Achron – Statuettes (1930) 28 Allegro 34 Presto
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X: Arthur Lourié – A Piano in the Children’s Room (1917)VIIII: Joseph Achron – Statuettes (1930) 34 Presto 40 Lullaby
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X: Arthur Lourié – A Piano in the Children’s Room (1917) 40 Lullaby 41 Short Summer Shower
EDA 12: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.1: Visions
X: Arthur Lourié – A Piano in the Children’s Room (1917) 41 Short Summer Shower Die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ist auf extreme Weise durch ideologische, politische und rassische Barrieren geprägt worden, die eine freie Entwicklung der Künste blockiert haben. In zwei Ländern, die die schrecklichsten Diktaturen erlebten – Deutschland und Russland –, war auch der kulturelle Aderlass am schlimmsten. Viele Künstler wurden in die Emigration getrieben. Die anderen kamen in Vernichtungslagern um. Die Verbliebenen wurden von der Außenwelt abgeschnitten, zur Anpassung gezwungen oder mundtot gemacht. Nicht nur einzelne Namen, ganze Künstlergruppen und Kunstrichtungen wurden ausgelöscht und sind im Kulturleben nicht mehr präsent. Die CD-Reihe "Über Barrieren" (Across Boundaries) versucht eine solche Lücke zu schließen. Sie präsentiert russische Komponisten, die zur Generation von Prokofjew und Schostakowitsch gehörten und in den 1910er und 1920er Jahren einen bedeutenden Beitrag zur russischen Musik geleistet haben. Weil einige emigrierten und andere nicht ins Prokrustesbett des "sozialistischen Realismus" passten, wurden ihre Werke in der Sowjetunion verpönt und verboten. Im Westen ohnehin wenig bekannt, geriet diese Musik nach 1945 völlig in Vergessenheit, weil sie nicht mehr den avantgardistischen Vorstellungen von Neuer Musik entsprach. Da zur Zeit das Interesse an der Frühmoderne in allen Kunstbereichen wächst und immer mehr erkannt wird, welche kreativen Impulse diese Kunstepoche zeitigte, ist jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, die Musik der russischen Frühmoderne aus ihrem Schattendasein zu befreien. Während Rachmaninov und der frühe Skrjabin noch deutlich an die große romantische Tradition von Chopin, Schumann und Tschaikowsky anknüpften, machten sich bei vielen Komponisten der nächsten, nach 1880 geborenen Generation andere Stiltendenzen bemerkbar. Der geniale Autodidakt Mussorgsky erschloss der russischen Musik neue Wege. Er versuchte dem musikalischen Ausdruck seine Ursprünglichkeit zurückzugewinnen, indem er konkrete Sprachintonation einbezog und nach bildhafter Plastizität strebte. Zu Lebzeiten nicht ernst genommen und verspottet, wurde Mussorgsky später zur Galionsfigur der Moderne. Es waren vor allem die Petersburger Komponisten, die das Werk von Mussorgsky und anderen Komponisten des "Mächtigen Häufleins" unmittelbar fortsetzten (am Petersburger Konservatorium lehrten Rimsky-Korsakow und seine Schüler Ljadow und Glasunow). Die Moskauer blieben dagegen noch lange im Rahmen der europäisch-romantischen Tradition. Somit lässt sich die vorliegende Auswahl von Komponisten eindeutig als Petersburger Richtung definieren. Mit Ausnahme von Feinberg sind sie alle aus dem Petersburger Konservatorium hervorgegangen und haben das anregende Kulturklima dieser Stadt erlebt und mitgestaltet. Aus der tollkühnen Vision eines Despoten geboren, war Petersburg – eine europäische Metropole auf dem Sumpf – ein Fremdkörper im eigenen Land, gleichermaßen bewundert und gehasst. Durch ihr einzigartiges, faszinierendes Charisma wurde Petersburg schon im vorigen Jahrhundert zu einer Legende. Ihre gespenstische Schönheit inspirierte mehrere Generationen von Künstlern. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war das geistige Leben der aufstrebenden Weltstadt so konzentriert und intensiv, dass es zu einer Explosion der Kreativität in allen Kunstbereichen kam. In wenigen Jahren gewann Petersburg als Schauplatz der modernen Kunst eine Bedeutung, die mit Paris und Berlin vergleichbar war. Das geistige Leben Petersburgs als Hauptstadt eines Vielvölkerstaates war multikulturell. Zu den positiven Faktoren zählte nicht zuletzt die beginnende Emanzipation der Juden. Die jüdische kulturelle Aufbruchsbewegung in Russland brachte damals Namen wie Chagall und El Lissitzky, Meyerhold, Mandelstam und Pasternak hervor. Viele bedeutende jüdische Komponisten und Interpreten prägten die musikalische Landschaft Russlands mit. Schon vor 1917, vor allem aber in den zwanziger Jahren, als die Juden für kurze Zeit die volle Gleichberechtigung erlangten, entstand eine Art russisch-jüdische Kultursymbiose – Parallelerscheinungen in Deutschland vergleichbar. Um diese Zeit wurde in Russland ein Potential angelegt, das der russischen Kultur Weltruf brachte und von dem sie danach in der jahrzehntelangen Isolation zehrte. Tragischer Weise ist gerade diese fruchtbare Epoche für die Welt weitgehend verschlossen geblieben. In Russland oft das "Silberne Zeitalter" genannt, nahm sie in den 1910er Jahren einen glanzvollen Aufschwung, erlitt durch die Revolution 1917 und die von ihr ausgelöste Massenemigration der Intellektuellen einen schweren Bruch, erfuhr eine neue Blüte in den 1920er Jahren und wurde schließlich rasch und gewaltsam um 1929–1932 von der kommunistischen Macht beendet. Im Laufe der nachfolgenden "Säuberungen" der Kultur und ihrer Anpassung an die stalinistischen Dogmen wurden die meisten Künstlernamen des Silbernen Zeitalters aus der offiziellen Kulturgeschichte eliminiert. Im Unterschied zur klassischen Kunst stellte die Moderne eine unmittelbare "Gefahr" für den sozialistischen Realismus dar, der von nun an die Alleinherrschaft beanspruchte. Erst nach der Öffnung der ehemaligen Sowjetunion stellt sich allmählich heraus, wie viele verborgene Schätze in den Archiven, Bibliotheken und Museumsdepots auf ihre Entdeckung warten. Die erste CD dieser Reihe ist der Klavierminiatur gewidmet. Sie schließt neben den Werken, die in Ersteinspielung erscheinen, den bekannten Klavierzyklus Visions fugitives von Prokofjew ein, der einen stilistischen Anknüpfungspunkt für die ganze Reihe darstellt. Wie Millionen Russen verließ auch Sergei Prokofjew wenige Monate nach der bolschewistischen Revolution das Land. Aber nur wenige kehrten wie er später in die Sowjetunion zurück. Man kann die Folgen, die diese Entscheidung für sein Schaffen hatte, verschieden beurteilen. Obwohl ihm schwere Angriffe nicht erspart blieben, steht jedoch fest, dass Prokofjew von den Machthabern anerkannt und vereinnahmt wurde und dass er somit als einer der ganz wenigen Avantgardisten eine fast uneingeschränkte Aufführungsfreiheit genoss. Im Unterschied zu den Künstlern, die im Westen blieben, sich in der inneren Emigration befanden oder gar in den Gulag kamen, wurde sein Name nie verschwiegen, was sich auch positiv auf die Verbreitung seiner Werke im Westen auswirkte. Der Klavierzyklus Visions fugitives (1915–1917) verdankt seinen Namen einem Gedicht des russischen Symbolisten Konstantin Balmont: "Ich kenne keine Weisheit, die für die anderen gültig wäre. Die Uraufführung fand im letzten Konzert Prokofjews im revolutionären Petrograd kurz vor seiner Abreise 1918 statt. Rückblickend stellte der Komponist eine "gewisse Verfeinerung der Sitten" in diesem Werk fest. In der Tat sind manche der Stücke weniger provokant als seine spektakulären frühen Werke. Im Ganzen stellt der Zyklus ein umfassendes Panorama seiner beliebtesten Bilder und Stimmungen dar: helle Lyrik (Nr. 1, 8, 18), mystische Beschwörungen (2, 13, 20), archaische Wildheit (4, 14, 15, 19), mysteriöse Landschaften (7, 17), skurrile oder groteske Szenen (5, 10, 12, 16). 1908 gelang dem Rektor des Petersburger Konservatoriums, Alexander Glasunow, die Abschaffung der diskriminierenden Prozentnorm für jüdische Bewerber in seiner Institution. Unter denjenigen, die nun studieren konnten, war Arthur Lourié. Am Konservatorium tat er sich schnell als begabter Pianist (und Konkurrent Prokofjews) hervor. Ab 1910 erschien eine Reihe von Kompositionen, die als ungewöhnlich kühne Klangexperimente ihrem Autor den Ruf eines ungebändigten Modernisten brachten. Tatsächlich nahm er eine exponierte Stellung in der futuristischen Szene Petersburgs ein. In diesen Jahren gehörte Lourié zum Künstlerkreis um das Nachtkabarett "Der Streunende Hund" (ein Pendant zur Pariser "Rotonde"), zu dessen Stammgästen unter anderem symbolistische und futuristische Dichter wie Alexander Blok, Konstantin Balmont, Anna Achmatowa, Wladimir Majakowsky, Welimir Chlebnikow und Ossip Mandelstam zählten. Louriés Schaffen war stilistisch äußerst vielfältig und nahm oft eine sprunghafte Entwicklung. So kündigte die Suite Klavier im Kinderzimmer von 1917 (in der französischen Ausgabe Piano gosse – "Klavierknirps") mit ihrer klaren diatonischen Sprache, einfachen Form und ihrem durchsichtigen Satz eine weitere Stilwende an. Diese Suite ist "dem lieben Töchterchen Ännchen" gewidmet. Wie Debussy in Children's corner oder Mussorgsky in der Kinderstube, vermochte auch Lourié, sich in die kindliche Welt hineinzuversetzen, ohne seine hohen künstlerischen Ansprüche einzubüßen. Die originellen russischen Titel sind zum Teil der Kindersprache entnommen. Von zwei Pastoralen umrahmt (,‚Porzellanwiese" und "Kurzer Sommerregen") folgen ein frecher russischer Tanz ("Trepatschok"), zwei Kinderportraits (ein braves Kind "Paj" und ein unartiges "Bjaka"), ein Waldschrat, der schlechte Kinder holt ("Buka") und ein Wiegenlied ("Baj"). Wie viele andere namhafte Futuristen wurde auch Lourié zunächst ein begeisterter Anhänger der Oktoberrevolution 1917. Zum ersten Musikkommissar des Sowjetstaates ernannt, tat er viel für die avantgardistische Musik. Die politische Entwicklung drängte aber auch ihn letzlich zur Emigration. 1922 kehrte er von einer Dienstreise nach Berlin nicht zurück, lebte dann ab 1924 in Paris und floh 1941 vor den deutschen Besatzern in die USA. Als ausgesprochener Einzelgänger, der an Modetrends uninteressiert war, wurde Lourié im Ausland von der Musikwelt kaum beachtet. Er starb 1966 völlig vergessen. Die vorliegenden Kompositionen Gigue, Valse, Marche und Toccata sind zwischen 1924 und 1927 entstanden. Die Toccata ist im Sinne des im Frühbarock entwickelten "stilus fantasticus" interpretiert. Nach den vulkanartigen Ausbrüchen des ersten Teils wirkt die eintretende Stille am Anfang des zweiten wie ein memento mori. Was danach kommt, ist unerwartet. Ein Tangorhythmus setzt ein, eben nur der Rhythmus ohne richtige Melodie, in verschiedensten Varianten, aber immer unsicher, immer wieder durch lange Zäsuren unterbrochen, wie eine unendliche Einleitung zu etwas, was gewünscht wird, aber nie kommt. Während diese kapriziösen Bilder voll Sehnsucht, Zorn und Verzweiflung die Toccata zu einem sehr subjektiven Stück machen, ist der Walzer eher das Gegenteil. Die Musik der Straße kommt hier auf die Bühne, die Sphäre der niederen, nichtprofessionellen Kunst des Alltags. Das Hauptthema ist in einer Weise süß-sentimental, die beim (spieß)bürgerlichen Hausmusizieren so beliebt war. Lourié wäre in eine banale Imitation verfallen, wenn es nicht die zuweilen derbe Harmonisierung gäbe – mit einer leichten Dosis von Verfremdung, Ironie und damit auch mit der notwendigen Distanz. Der Refrain wechselt mit drei anderen Themen ab, die humorvolle Straßenbilder zum Leben erwecken. Der monotone Walzer aus dem Leierkasten weicht einem merkwürdigen Straßenmusikantenensemble, in dem die führende Rolle offenbar die große Trommel spielt. Ihm folgt eine "richtige" Blaskapelle. Wo der Walzer wie ein liebevolles, vielleicht sogar nostalgisches Lächeln anmutet, wirkt der Marsch wie eine Karikatur. Eine plumpe, primitive Melodie, schrille Kontraste, einfältige Rhythmen, riesige Klangmassen, die ziellos umhertaumeln – das macht den Eindruck einer Buffonade, die beinahe in bösen Ernst umschlägt. Zum Schluss wird der Marsch immer bedrohlicher, aber plötzlich platzt er wie eine gigantische Seifenblase, und die witzigen, unbeholfenen Vorschläge, mit denen das Thema ausklingt, besagen, dass es doch nur ein harmloser Scherz war. 1918, wenige Monate nach der Revolution, schrieb Alexander Blok das Poem Die Zwölf, das sein poetisches Testament werden sollte. Blok, der die Künstler aufforderte, "der Musik der Revolution zuzuhören", ließ diese Musik in seinem Poem erklingen: Kälte, Wind, Angst und vor allem der triumphierende Pöbel mit seinem eigenen Lebensgefühl ohne Sentiments, dafür aber voll Schwung und Kraft, mit seinem eigenen Vokabular und nicht zuletzt mit seinen Liedern. Der poetische Rhythmus von Die Zwölf steht unter dem Einfluss der "Tschastuschka" – einer spezifisch russischen Liedform: kurze, primitiv gereimte, lustige, in der Regel unflätige Verse, die manchmal spontan nachgedichtet, oft mit einer Ziehharmonika begleitet auf gleichermaßen primitive Melodien fast schreiend gesungen werden. Dass sich unter dem neutralen Titel Gigue ein ganz konkretes Kolorit verbirgt, erweist sich schnell. Aus einem tief im Bass unruhig pulsierenden, "urigen" Rhythmus erwächst eine in ihrer Einfachheit, ihrer Naivität und ihrem Schwung überwältigende Melodie – die russische Tschastuschka. Es ist fast ohne Bedeutung, ob Lourié echte Melodien benutzte oder bloß ihren Stil nachahmte. Bestimmt könnte man in den einschlägigen Sammlungen irgendwelche Vorbilder finden – die motivische Sphäre ist so eng in diesem Genre, dass es da gar nicht so viele Varianten geben kann. Bei Lourié aber entwickeln diese Melodien aus wenigen Noten ein großes Kraftpotential. Mit derben, eine Ziehharmonika imitierenden Klängen umflochten, durch schwungvolle Akzente dauernd unterbrochen, in groben dynamischen Kontrasten vorgetragen, drehen sich verschiedene Tschastuschka-Themen in einem Karussell der Tonarten, bis es nach einer gewaltigen Kulmination in der Coda zum plötzlichen Auslöschen kommt. Als Joseph Achron 1899 ans Petersburger Konservatorium kam, hatte er bereits eine erfolgreiche Wunderkindkarriere hinter sich, die für nicht wenige jüdische Violinvirtuosen aus Osteuropa typisch war. In einem kleinen polnisch-litauischen Dorf geboren, erhielt er mit 5 Jahren den ersten Unterricht von seinem Vater, der ihm die erste Geige selbst anfertigte. Schon nach drei Jahren folgten öffentliche Auftritte, unter anderem vor der Zarenfamilie in Petersburg. Am Konservatorium wurde Achron Schüler von Leopold Auer, dem legendären Pädagogen und Gründer der modernen russischen Violinschule. Nachdem Achron das Konservatorium mit den höchsten Auszeichnungen absolviert hatte, wandte er sich zunehmend der jüdischen Musik zu. Neben seiner Konzerttätigkeit als Geiger nahm er an den Aktivitäten der 1908 gegründeten "Gesellschaft für jüdische Volksmusik" teil und erregte in den 1910er Jahren Aufsehen mit seinen Kompositionen mit jüdischer Thematik. Die erste von ihnen, Hebräische Melodie (1911) wurde durch die Interpretation von Jascha Heifetz weltberühmt. Nach der Revolution schrieb Achron Musik für das ebenfalls neugegründete jüdische Kammertheater, für das Marc Chagall Bühnenbilder und Wandgemälde, darunter die berühmte "Einführung in das jüdische Theater" schuf. 1925 folgte Joseph Achron seinem Bruder Isidor, einem bekannten Pianisten und langjährigen Duopartner von Jascha Heifetz, in die USA. Er starb 1943 in Hollywood. Arnold Schönberg nannte ihn einen "der meist unterschätzten modernen Komponisten". Die sieben Statuettes (1930) lassen von seiner frühen Beschäftigung mit jüdischer Musik wenig erkennen. Lediglich in den langsamen Stücken ist ein jüdisch-orientalisches Kolorit spürbar. Achron verwendet im Zyklus eine Kompositionstechnik, die mit dem volkstümlichen Charakter schwer vereinbar wäre, nämlich atonale Tonkomplexe. Dieses Tonsatzsystem war eine Spezialität der frühen russischen Avantgarde. Man findet es schon beim späten Skrjabin. Bei Nikolaj Roslavetz bestimmt ein Tonkomplex mit festgelegter Intervallstruktur und freier Reihenfolge der Töne das ganze harmonische und melodische Geschehen. Achron benutzt dieses Prinzip sehr freizügig. Der Tonkomplex von Statuettes besteht nur aus vier Noten (mit denen das erste Stück auch beginnt) und beschränkt sich zumeist auf die Begleitfunktion. Die thematischen Elemente werden frei gestaltet, was nicht zuletzt dazu beiträgt, dass die Stücke so lebendig, einfallsreich und emotional wirken. Die Intrada (Nr.1) mit ihren pochenden Akzenten endet nach einem kurzen Anlauf plötzlich mit einem Rätsel, ähnlich der "Sphinx" aus dem Schumannschen Carneval. Darauf folgen sechs Lösungen, sechs Bilder, die zwar alle von dem viertönigen Tonkomplex initiiert werden, die aber jedesmal neu in ihrem Ausdruck verblüffen: In einer wüsten, surrealistischen Landschaft erhebt sich ein Monster – und löst sich wieder auf in der drückenden, heißen Luft (Nr. 2). Ein unheimliches Maschinenwerk begleitet trompetenartige Fanfaren, die immer wieder durch sarkastisches Akkordgelächter unterbrochen werden – ein böses Possenspiel, das vielleicht in der Teufelsküche betrieben wird (Nr. 3). Eine endlose Melodie schlängelt sich erst zu einem leidenschaftlichen Höhepunkt empor und fällt dann kraftlos wieder herunter – eine orientalische Liebesbeschwörung voll Wonne und Anmut (Nr. 4). Einem leinen skurrilen Scherzo (Nr. 5) folgt eine Pastorale, deren zarte Akkorde spröde und krankhaft wirken. Das Flötensolo bricht immer wieder in wehmütige und sehnsuchtsvolle Kadenz-Improvisationen aus, um dann endgültig in leise Resignation zu versinken (Nr. 6). Umso erfrischender ist das letzte Stück (Nr. 7) – eine Apologie der Bewegung, ein perpetuum mobile, das alle Hindernisse (schrille Triller, derbe Akkorde) überwindet. Ununterbrochen folgen halsbrecherische Läufe einander, brillieren am Ende in einer kaum erreichbaren Höhe, schwingen spielend durch die ganze Tastatur nach unten und enden schließlich mit einem kräftigen Akkord. Unter den Mitbegründern der Petersburger "Gesellschaft für jüdische Volksmusik" war ein weiterer Absolvent des Konservatoriums, Lazare Saminsky. Seine Lehrer waren Rimsky-Korsakow und Ljadow. Gleichzeitig studierte er an der Petersburger Universität Mathematik und Philosophie. Seine ersten symphonischen Werke wurden in den 1910er Jahren in den Konzerten von Kussevitzky und Siloti aufgeführt. Aus der Zeit stammen auch viele Klavier- und Kammermusikwerke, unter ihnen die 1919 in Paris entstandene Vision. Diese kleine Fantasie besteht aus mehreren kontrastreichen Episoden, die einander rasch und ohne Übergang abwechseln, scheinbar unmotiviert, ohne Logik und doch mit einem verborgenen Sinn, wie es in Träumen geschieht. Die mysteriöse Einleitung, die dann als infernaler Marsch wieder erscheint, der extatische Mittelteil und der religiös-verklärte Abschluss – diese symbolträchtigen, unruhigen, mystischen Bilder erinnern an symbolistische Dichtungen jener Zeit. Nach vielen Reisen als Dirigent und Ethnologe kam Saminsky 1920 nach New York. Im Unterschied zu vielen anderen Emigranten, auch zu Achron (der seinen Lebensunterhalt mit dem Komponieren von Filmmusiken bestreiten musste) konnte sich Saminsky schnell im amerikanischen Musikleben etablieren. Er war ein gefragter Dirigent, Musikorganisator und Musikpublizist. Saminsky gründete den amerikanischen Komponistenbund und blieb dann 20 Jahre lang dessen Vorsitzender. Zu den Höhepunkten seiner Karriere als Dirigent gehörte ein Benefizkonzert zugunsten der Alliierten (1943). Im Mittelpunkt seiner vielseitigen Aktivitäten stand der Tempel Emanu-El, dessen Musikdirektor er 1924 wurde. Diese 1845 von reformierten deutschen Juden gegründete Synagoge wurde durch Saminsky zu einem bedeutenden Musikzentrum Amerikas, wo alljährlich das "Drei-Chöre-Festival" und andere Konzerte veranstaltet wurden. Saminsky publizierte in Amerika einige Bücher über zeitgenössische Komponisten. Er schrieb auch über Alexander Weprik: "Weprik ist ein Talent von außergewöhnlicher Kraft... Sein hervorragender Tanz für Klavier ist voll elementaren Temperaments und harmonischer Fantasie, lebendig und schwungvoll". Das Energiepotential des Tanzes (Dance Op. 13a, 1927) ist wirklich enorm. Komplizierte Tonsatzmittel wie Bitonalität verstärken noch die spontane emotionale Wirkung, sie verleihen der Komposition einen eindrucksvollen urtümlichen Charakter. Wepriks kreativste und interessanteste Periode dauerte nur sechs Jahre (1922–28). Die später entstandenen Werke sind konventionell und stark ideologisch geprägt. Weprik studierte schon als Kind in Leipzig (1909–14) Komposition bei Janáček und Reger, sowie Klavier bei Karl Wendling und setzte dann seine Ausbildung in Petrograd und Moskau fort. Mit 24 Jahren wurde er ans Moskauer Konservatorium als Lehrer berufen und bekam bald eine Professur für Instrumentation. In den 1920er Jahren war er aktiv als Organisator der Musikausbildung tätig. 1927 und 1928 hielt sich Weprik im Auftrag des Kulturministers Lunatscharsky auf einer ausgedehnten Dienstreise in Europa auf, wo er mehrere Musikinstitute besuchte und Kontakte mit Schönberg, Ravel, Honegger und Hindemith anknüpfte. Um diese Zeit wurde er auch als Komponist international bekannt, nachdem seine Lieder und Tänze des Ghettos in Europa und Amerika aufgeführt wurden. Ab Anfang der 1930er Jahren unterwarf sich Weprik in seinem Schaffen völlig der offiziellen Ideologie. Er war aber mutig genug, bei der berüchtigten Kampagne gegen Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk 1936 fast als einziger Partei für Schostakowitsch zu ergreifen. 1950 kam Weprik in ein Straflager, aus dem er erst nach Stalins Tod entlassen wurde. Auch die meisten Werke von Samuil Feinberg entstanden in den zwanziger Jahren. Der politische Druck wirkte sich danach zunehmend lähmend auf sein Schaffen aus. Feinberg war hervorragend am Moskauer Konservatorium ausgebildet und begann schon 1912 eine europäische Karriere als Pianist. Sein Repertoire war immens und schloss alle Beethoven- und Skrjabin-Sonaten, das ganze Wohltemperierte Klavier von Bach, fast alle bedeutenden Klavierwerke der Romantik, aber auch moderne Musik ein. Auch bei seiner großen Deutschland-Tournee 1927 präsentierte Feinberg fünf zeitgenössische russische Komponisten. Ab 1922 unterrichtete Feinberg am Moskauer Konservatorium, wurde Leiter der Klavierabteilung und avancierte neben Neuhaus, Igumnow und seinem Lehrer Goldenweiser zu einem der renommiertesten sowjetischen Klavierpädagogen. Feinberg komponierte fast ausschließlich Klaviermusik. Die Berceuse ("Wiegenlied") ist eher untypisch für seinen Stil. Dieses kleine, meditative, impressionistisch feine Stück hat wenig gemeinsam mit seinen sehr umfangreichen, kompakten, expressiven Kompositionen, die auch in technischer Hinsicht denkbar höchste Ansprüche stellen. Die leise Melodie schwebt über einem zarten Netz von chromatischen Harmonien. Das ganze Stück ist ein langsames Verstummen, Einschlafen, Sterben. Jascha Nemtsov
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