EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
IV: Piano Sonata no. 4 op. 38 Bitte wählen Sie einen Titel, um hineinzuhören
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I: Piano Sonata no. 1 op. 10 (1936)
1 Molto agitato
EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
I: Piano Sonata no. 1 op. 10 (1936) 1 Molto agitato 2 In memoriam Gustav Mahler. Andante (quasi marcia funebre)
EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
II: Piano Sonata no. 2 op. 19I: Piano Sonata no. 1 op. 10 (1936) 2 In memoriam Gustav Mahler. Andante (quasi marcia funebre) 4 Allegro energico e agitato
EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
II: Piano Sonata no. 2 op. 19 4 Allegro energico e agitato 5 Theme and Variations
EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
II: Piano Sonata no. 2 op. 19 5 Theme and Variations 6 Prestissimo
EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
III: Piano Sonata no. 3 op. 26II: Piano Sonata no. 2 op. 19 6 Prestissimo 8 Scherzo. Allegro violente
EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
III: Piano Sonata no. 3 op. 26 8 Scherzo. Allegro violente 7 Allegro grazioso, ma agitato
EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
III: Piano Sonata no. 3 op. 26 7 Allegro grazioso, ma agitato 9 Variations on a Theme by Mozart. Allegro grazioso
EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
IV: Piano Sonata no. 4 op. 38III: Piano Sonata no. 3 op. 26 9 Variations on a Theme by Mozart. Allegro grazioso 10 Allegro vivace
EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
IV: Piano Sonata no. 4 op. 38 10 Allegro vivace 12 Finale. Vivace molto
EDA 5: Viktor Ullmann: Piano Sonatas Nos.1–4
IV: Piano Sonata no. 4 op. 38 12 Finale. Vivace molto
Wir begegnen Edith Kraus zum ersten Mal im November 1991 in Prag. Anlässlich des 50. Jahrestages des ersten Transports nach Theresienstadt findet ein Gedenkkonzert statt. Sie spielt "ihre" Ullmann-Sonate, die 6., die er im Lager geschrieben und ihr dortselbst zur Uraufführung anvertraut hatte. Noch ein weiterer Mithäftling aus Theresienstadt tritt auf, der Bassist Karel Berman. Auch er erinnert mit einem Liederzyklus von Pavel Haas, den er sich für einen Theresienstädter Liederabend von ihm erbeten hatte, gleichermaßen an das große Leid dieser Zeit wie an die ungeheure Schaffenskraft der Komponisten und den nicht zu brechenden Willen der Interpreten, der Willkür, dem Hass, der Angst eine Hoffnung entgegenzusetzen – die Musik. Noch konnte niemand das Phänomen des Komponierens und Musizierens im sogenannten "Ghetto" Theresienstadt in seinen psychologischen und emotionalen Dimensionen gänzlich verstehen. Möglicherweise könnten dies nur die wenigen Überlebenden, die Zeitzeugen, deren Zahl immer geringer wird - es mag anstößig klingen, ist aber dennoch die Wahrheit: Wir – die junge Generation – verlieren einen unermesslichen Schatz, unseren einzigen wirklichen Zugang zur Vergangenheit, zu einer Zeit, die mit dem Adjektiv "dunkel" tatsächlich nichts weiter als verdunkelt wird: die Zeugen. Im Anschluss an das Konzert treffen wir Edith Kraus bei einem Empfang im Presseclub wieder. Ihre Interpretation der 6. Sonate von Ullmann hat uns derart begeistert, dass wir sie spontan bitten, mit uns eine CD zu produzieren. Sie blickt uns eine Weile an, dann sprechen wir sogleich über Einzelheiten. Nein, die Sonaten aus Theresienstadt wolle sie nicht aufnehmen, zu unklar seien die Manuskripte der 5. und 7. Sonate, und zu viele Pianisten wären mit ihnen zugange. Aber was wir von den Sonaten 1–4 hielten? Wir sagen zu. – Monate gehen ins Land, viele, oft ungeahnte Schwierigkeiten tauchen auf. Schließlich sind wir soweit. Wir treffen uns im Februar 1993 in Prag. Es ist sehr kalt. Die ganze Stadt liegt unter zähem Dunst, das Atmen geht schwer, die Sonne verschleiert sich orange sogar zur Mittagsstunde. Wir treffen Edith Kraus nach über einem Jahr wieder. Eine erneute "erste" Begegnung. Wir wissen, dass es für sie nicht leicht ist, aber es wird nicht darüber gesprochen. Alle sind äußerst gespannt. Der Aufnahmesaal ist kalt, viel zu kalt. Edith Kraus setzt sich an den Flügel. Über Viktor Ullmann wird sie uns in diesen Tagen nur wenig sagen. Ja, sie habe ihn schon in Prag gekannt, aber er sei immer sehr scheu und zurückhaltend gewesen. Sie erzählt uns vom Prag der dreißiger Jahre – eine faszinierende Stadt voller Kunst und Musik, den Keim der heraufziehenden Zeit jedoch schon in sich tragend im schwierigen, oft kontroversen Verhältnis zwischen Tschechen und der deutschen Bevölkerungsgruppe, zwischen Juden und Nichtjuden. Die junge Edith Kraus vermag es, sich zwischen den Fronten hin- und herzubewegen, sieht und hört Aufführungen genauso im tschechischen Nationaltheater wie im Neuen Deutschen Theater, saugt alles in sich hinein. Dann, am Ende des Jahrzehnts, kommt die Besatzung und mit ihr die Angst. Das schlimmste, sagt sie uns, war nicht das Ghetto – es war die Angst vor dem Klingeln an der Haustür – Transport! Nicht zufällig, sagt Edith Kraus, sind Ullmanns 3. und 4. Sonate so viel düsterer als die ersten beiden und sogar als die, die erst später im Lager entstehen. In Theresienstadt schreibt Ullmann Kritiken über ihre Klavierabende – gute, erinnert sie sich mit einem leisen Lächeln. Er wird 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet; ihr gelingt es zweimal, dem Transport in den Tod zu entgehen. Aufnahme. Jetzt gibt sie uns Auskunft – durch ihr Spiel. Wir hören ihr atemlos zu. Es wird kaum gesprochen, nur weniges wird wiederholt. Dass das Werk im Mittelpunkt steht und nicht sein Interpret, habe sie schon bei Schnabel gelernt, sagt sie. Wir sehen uns an; in der großen Klarheit und bedingungslosen Konsequenz ihres Spiels haben wir schon vorher einen Ausdruck der "alten Schule" vermutet; Edith Kraus bestätigt unsere Gedanken. Das, was wir mit dieser Aufnahme beabsichtigen, scheint sich für Momente aufs glücklichste zu erfüllen: Mühelos können wir über Generationen Brücken schlagen; gänzlich verschiedene Gegenwarten vermischen sich zu einer einzigen, gemeinsamen: Edith Kraus, fast achtzigjährig, die im Berlin der zwanziger Jahre bei Artur Schnabel studiert hat, spielt für uns Musik eines Komponisten, mit dem sie ein gemeinsames Schicksal teilte und dessen Werke sie uns nun erschließt, berufen wie niemand sonst – all dies im Prag von 1993, einer aufbrechenden Stadt, am Anfang einer neuen Zukunft... Ein Gefühl, das uns tragen wird, eine lange Zeit.
Viktor Ullmann: Die Klaviersonaten 1–4 Viktor Ullmann gehört zu jenen Komponisten, die von den Nazis gleichsam zweimal ermordet worden sind: Nicht nur, dass er am 18. Oktober 1944 in Auschwitz umgebracht wurde, auch die Erinnerung an seine Werke wurde ausgelöscht – bis in die jüngste Zeit. Nachdem zwar seine Oper Der Kaiser von Atlantis 1975 spät genug – uraufgeführt worden war, setzte die umfassende Wiederentdeckung Ullmanns als Komponist doch erst in den letzten Jahren ein. 1898 im damals österreichischen Teschen geboren, war der Schönberg-Schüler in den 20er Jahren als Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung Assistent von Zemlinsky am Neuen Deutschen Theater in Prag. Von dort ging er als Operndirektor nach Aussig (1927/28), dann als Theaterkapellmeister ans Schauspielhaus Zürich (1929–31). In diese Zeit fällt auch sein erster großer überregionaler Erfolg als Komponist: Seine Klavier-Variationen über ein Thema von Schönberg fanden 1929 auf dem Internationalen Musikfest in Genf – von Adornos etwas mäkeligen Bemerkungen einmal abgesehen – allgemeinen Beifall, über den damals auch Hans Heinz Stuckenschmidt berichtet hat. Dem Pianisten dieser Aufführung, Franz Langer (1898–1957), war Ullmann freundschaftlich verbunden: Ihm widmete er später seine 1. Klaviersonate, die Langer am 6. Mai 1936 in Prag uraufgeführt hat. In dieser Zeit begann Ullmann, sich mit der Anthroposophie auseinanderzusetzen – und zwar so ernsthaft, dass er 1931 beschloss, sich als Leiter eines anthroposophischen Buchladens in Stuttgart ganz in ihren Dienst zu stellen. Doch sah er sich 1933, nach der "Machtergreifung", gezwungen, Deutschland zu verlassen. Er kehrte nach Prag zurück und baute sich hier als Musiklehrer und -journalist mühsam eine neue Existenz auf. Erfolge als Komponist sollten sich aber bald wieder einstellen: Zweimal gewann er den Emil-Hertzka-Gedächtnispreis – 1934 mit der erweiterten Orchestrierung seiner Schönberg-Variationen (Paul Dessau und Luigi Dallapiccola erhielten beide eine "auszeichnende Anerkennung") und 1936 mit der großen dreiaktigen Oper Der Sturz des Antichrist nach dem Drama des anthroposophischen Dichters Albert Steffen. Da die "Titelfigur" als eine Anspielung auf Hitler interpretiert werden konnte, kam eine Aufführung allerdings nicht zustande; erst am 7. Januar 1995 wurde Ullmanns musikdramatisches Hauptwerk, das in seinen Kompositionsprinzipien an Bergs Wozzeck angelehnt ist, in Bielefeld in der Inszenierung von John Dow und unter der Leitung von Rainer Koch uraufgeführt. Es belegt Ullmanns Interesse an der Anthroposophie, das auch bezeugt wird durch seine engen Kontakte zu Alois Hába – bei dem anthroposophischen "Vierteltonkomponisten" nahm Ullmann 1935–37 noch Kompositionsunterricht – wie auch zu Hans Büchenbacher (1887–1977), der 1931 in Stuttgart Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland geworden war: Ihm widmete Ullmann seine 2. Klaviersonate, als Büchenbacher schon am Goetheanum in Dornach unterrichtete. Hier waren sie sich im Sommer 1938 noch begegnet, hier hat Ullmann auch, der ein guter Pianist gewesen sein muss, selbst seine 1. Klaviersonate in einem Privatkonzert bei Albert Steffen vorgetragen. Eine öffentliche Aufführung der 2. Klaviersonate kam wahrscheinlich deshalb nicht zustande, weil die Nazis – nach der Okkupation des tschechischen Rest-Staates im März 1939 – auch hier die bekannten Restriktionen gegen die Juden einführten. Eine private Aufführung des Werkes ist für ein Hauskonzert 1940 belegt, durch die damals international bekannte Pianistin Alice Herz-Sommer (geb. 1903, sie überlebte in Theresienstadt). Die 4. Klaviersonate, die Ullmann ihr später widmete, hat sie allerdings nie gespielt. Auch die 3. Klaviersonate hat Ullmann einer Pianistin dediziert: Juliette Arányi (geb. 1912, ermordet 1944 in Auschwitz). Sie gehörte zu dem Freundeskreis um Alois Hába, ihr hatte Ullmann 1939 schon sein Klavierkonzert zugedacht: der "verehrungswürdigen Meisterin des apollinischen Klavierspiels". Dass sie das Konzert wie die Sonate gespielt hat, ist nicht überliefert. Immerhin war Ullmanns Entscheidung, in der Sonate einem Variationensatz ein Thema von Mozart zugrundezulegen, wohl eine spezielle Hommage an die Pianistin, die über eine besondere Affinität zur Musik Mozarts verfügt hat. Ullmann wurde im September 1942 in das sogenannte "Ghetto" Theresienstadt deportiert, wo er als Organisator von Musikaufführungen eine rege Tätigkeit entfaltete; er richtete u.a. auch ein "Studio für Neue Musik" ein, in dem neben Theresienstädter Werken von Gideon Klein, Sigmund Schul und Karel Berman auch Kompositionen von Zemlinsky, Schönberg und Mahler aufgeführt wurden. Von Ullmanns dort entstandenen Kompositionen sind fast alle erhalten. Er übergab sie einem Mitgefangenen, der überlebte und sie nach dem Krieg an den Schriftsteller H. G. Adler weitergab; durch ihn kamen sie an das Goetheanum Dornach, wo sie heute aufbewahrt werden. Von dem halben Hundert der bis 1942 geschriebenen Werke sind nur 18 überliefert, davon 14 in Gestalt der von Ullmann im Selbstverlag herausgegebenen Erstdrucke. Unter ihnen kommt neben mehreren Liederzyklen (u.a. nach Ricarda Huch, C. F. Meyer, Louize Labé, Albert Steffen und Elizabeth Barrett Browning in der Übersetzung von Rilke) den vier zwischen 1936 und 1941 gedruckten Klaviersonaten die größte Bedeutung zu – drei weitere, im Autograph erhaltene Klaviersonaten entstanden dann noch in Theresienstadt. Die Konzentration auf die Gattung der Klaviersonate (vier Werke innerhalb von fünf Jahren) ist für einen Komponisten zu damaliger Zeit ziemlich einzigartig – vergleichbar in diesen Jahren etwa mit Hindemith und (eingeschränkt) mit Prokofiew. Obwohl Ullmann seine in Prag entstandenen Sonaten nur als dreisätzige Folgen anlegt, in jeweils relativ knapper Ausdehnung, ist in ihnen doch der Typus der "großen" klassisch-romantischen Sonate als Kompositionsmodell spürbar. So zeigen die Kopfsätze jeweils das größte kompositorische Gewicht; einzelne Elemente der herkömmlichen Sonatenhauptsatzform sind nachweisbar, auch wenn dieser Formaufbau als Ganzes offensichtlich sehr bewusst vermieden ist. Auch die Entscheidung für Variationenfolgen, Scherzi, ausgeprägte Adagio-Charaktere, Fuge und Tripelfuge für die Sätze an zweiter und dritter Stelle wirkt traditionell. Der zu seiner Zeit "neuen" Musik entsprechen eine gelegentlich expressionistisch getönte Melodik und die atonale Harmonik, die Ullmann allerdings auf unterschiedliche Weise modifiziert. So zeigen beispielsweise die ersten beiden Sonaten gelegentlich "montierte" reine Dur- oder Moll-Dreiklänge, die jedoch keine tonale Fixierung bewirken; Ullmann setzt sie gern an exponierten Stellen ein, zur Betonung von Zäsuren oder um einem Thema eine besondere Farbe zu geben. Nach dem Kontrastprinzip beginnt Ullmann den ersten Satz der 3. Sonate: Nachdem er zunächst in strenger Weise ein Zwölftonfeld aufgebaut hat (absteigende Terz- bzw. Tritonus-Klänge), entfaltet er in den nachfolgenden zwölf Takten über dem Orgelpunkt G einen Nonen-Akkord, ohne dass dem eine dominantische Funktion zukommt. In sehr differenzierter Weise verfährt Ullmann mit dem atonalen Prinzip in den Sätzen, in denen er tonale Themen verwendet oder die Erinnerung an ältere Musik hervorrufen will. So legt er dem Andante der 1. Sonate, das er "In memoriam Gustav Mahler" betitelt, die latente Tonart c-Moll zugrunde – mit deutlicher Reminiszenz an die Trauermusik aus Wagners Götterdämmerung. Mit den Mitteln der Ganztonleiter arbeitet Ullmann in dem großen Scherzo-Finale der 2. Sonate, in dem er sich des Zauberlehrlings von Paul Dukas erinnert. In den Variationen über ein mährisches Volkslied, aufgezeichnet von Leoš Janáček (2. Sonate), wird die Tonika F-Dur des Themas zwar verfremdet, nicht aber aufgelöst. Das geschieht gelegentlich in dem anderen Variationensatz, dem über ein Thema des sechsjährigen Mozart: Das Kleine Klavierstück in B-Dur (KV 3) wird original exponiert, die Tonika wechselt dann aber mehrmals und wird durch Alterationen an manchen Stellen nahezu aufgehoben. In der großen Tripelfuge der 4. Sonate (Finale) wird eine jeweils eigene tonale Färbung zur Hervorhebung der Themenexpositionen eingesetzt. So differenziert Ullmann den neuen Stil auf individuelle Weise; indem er traditionelle Elemente verarbeitet, bewahrt er die Erinnerung an die ältere Musik und erleichtert dem zeitgenössischen Hörer den Zugang zu dem Neuen in seiner Musik. Hans-Günter Klein Prager Lehr- und Meisterjahre Als Viktor Ullmann 1919 nach Prag kam, war er 21 Jahre alt, frisch verheiratet und ohne Aussicht auf eine den Lebensunterhalt sichernde Tätigkeit im Musikleben der Stadt. Doch brachte er, wie sein bisheriger Ausbildungsweg belegt, die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Musikerkarriere mit. Seine Lehrjahre in Wien, wo er seit 1909 mit seiner Mutter lebte, müssen bereits vor 1914 begonnen haben, denn in dieses Jahr fällt der Beginn des anspruchsvollen musiktheoretischen Unterrichts bei Dr. Josef Polnauer, einem Schönberg-Schüler der ersten Generation. Auch die Schule, das Gymnasium des III. Wiener Stadtbezirks, hielt vielfältige Anregungen für ihn bereit. Zu seinen älteren, aus respektvoller Distanz wahrgenommenen Mitschülern zählten die später als Musiker und Schriftsteller bekanntgewordenen Felix Petyrek und Heimito von Doderer; freundschaftliche Beziehungen entwickelten sich zu den Gleichaltrigen Gerhart und Hanns Eisler sowie vor allem zu Josef Travniček. Das (Kriegs-)Abitur wurde ihm Anfang Mai 1916 zugesprochen, nachdem er sich – wie die meisten Klassenkameraden – freiwillig zum Militärdienst gemeldet hatte. Als Artillerieleutnant erlebte er das Ende des Weltkriegs und den Zusammenbruch der Donaumonarchie. Bereits im letzten Kriegsjahr hatte er sich als Jura-Student an der Wiener Universität immatrikuliert; Ende Oktober 1918 folgte der Eintritt in Arnold Schönbergs Kompositionsseminar. Das Erlebnis des Lehrers Schönberg, die Bekanntschaft mit Alban Berg und Eduard Steuermann und die Erfahrungen aus der Arbeit des "Vereins für musikalische Privataufführungen" prägten Ullmanns musikalisches Denken und Handeln während der ersten Dekade seiner künstlerischen Laufbahn entscheidend. Welche Gründe für die Übersiedlung Ullmanns nach Prag ausschlaggebend gewesen sein könnten, kann man bis heute nur vermuten. Eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, Wien zu verlassen, dürfte wohl die besondere Anziehungskraft der "geteilten" Musikszene in der Moldau-Metropole gespielt haben. Seit der Gründung der Tschechoslowakei im Oktober 1918 traten die Konturen nationaler Abgrenzung im Kulturleben Prags in aller Schärfe und mit teilweise grotesken Zügen zu Tage. Bislang gemeinsam betriebene und besuchte Institutionen wie die Universität oder das Konservatorium zerfielen unter dem Druck der neuen politischen Verhältnisse in je eine Einrichtung der tschechischen Mehrheit und der deutschen Minderheit. Die in Jahrhunderten gewachsene Rivalität fand einen weiteren sichtbaren Ausdruck in der parallelen Existenz zweier großer Opernhäuser, des tschechischen Nationaltheaters (1883) und des Neuen Deutschen Theaters (1888). Ein besorgter Kritiker schrieb damals: "Vernünftige versuchen Brücken zu schlagen. Der Erfolg ist fraglich und wird solange fraglich bleiben, als nationalistische Phantasien alte und junge Kulturen untergraben." (Erich Steinhard, 1922.) Ganz im Gegensatz zum immer wieder auflodernden Parteienstreit vertraten führende Musikerpersönlichkeiten liberale Positionen. Insbesondere Otokar Ostrcil und Alexander von Zemlinsky, die beiden Opernchefs, ließen sich von engstirnigen chauvinistischen Eiferern nicht beeindrucken und öffneten ihre Repertoires für die Werke der "anderen Seite" (z.B. wurde Janáčeks Katja Kabanová im Neuen Deutschen Theater und Bergs Wozzeck im Nationaltheater gegeben). Unter Zemlinsky begann Ullmann 1920 als Chordirektor und Korrepetitor am Neuen Deutschen Theater, wo er schon bald zum Kapellmeister avancierte. Zu seinen anfänglichen Aufgaben gehörte die Vorbereitung von Chören bzw. Solisten auf Konzerte unter Zemlinskys Leitung (Schönbergs Gurrelieder, 1921; Bergs Wozzeck-Bruchstücke, 1925). Ab 1924 hatte er, zeitweise in Vertretung Zemlinskys, eine größere Anzahl selbständiger Dirigate zu übernehmen. Auch der Pianist Franz Langer (nach 1945 u.a. Lehrer von Kurt Masur) gehörte in Ullmanns Anfangszeiten zum Korrepetitoren-Team der Oper. Zwischen den beiden gleichaltrigen Musikern entstand schnell eine freundschaftliche Bindung, deren Tragfähigkeit sich bis in die späten 30er Jahre bewährte. Von Ullmanns Komponistendebüt (7 Lieder mit Klavier, 1923) bis zur Uraufführung der 1. Klaviersonate (1936) war Langer der einzige renommierte Pianist, der Ullmann-Werke im Repertoire hatte. Zemlinsky erwartete von seinen jungen Kapellmeistern, zu denen noch weitere Schönberg-Schüler wie Heinrich Jalowetz und Paul Pella gehörten, neben der Beherrschung der klassisch-romantischen Literatur auch die Auseinandersetzung mit der Moderne, deren jüngste Produkte regelmäßig im Spielplan des Neuen Deutschen Theaters und auf den Programmen der Philharmonischen Konzerte auftauchten. Als Beispiele seien Schönbergs Erwartung (Uraufführung), Bartóks Der wunderbare Mandarin, Hindemiths Cardillac und Křeneks Jonny spielt auf genannt. Wenn Ullmann später in einem Brief an Alban Berg schrieb: "Sie wissen ja, daß ich 7 Jahre unter Zemlinsky dirigiert und einstudiert habe...", so wollte er damit gewiss außer der Strenge der Anforderungen auch den persönlichen Gewinn seiner Prager Lehrjahre unterstreichen. 1927/28, während seines ersten (und zugleich letzten) Engagements als selbständiger Opernkapellmeister, konnte er in Aussig (Ústí nad labem) auf dem Fundament der unter Zemlinsky erworbenen Erfahrungen eine vielbewunderte Glanzleistung vollbringen. In einem Haus, das außer der Oper noch die Operette beherbergte und für regelmäßige Gastspiele tschechischer Ensembles zur Verfügung gestellt wurde, brachte er während einer Spielzeit sieben Premieren heraus und dirigierte ein Sinfoniekonzert. Der Opernspielplan (u.a. Wagner, Tristan; Smetana, Der Kuß; Křenek, Jonny) verrät deutlich die Züge der undogmatischen Programmatik Zemlinskyscher Prägung. Über das Konzert schrieb der Rezensent des Aussiger Tagblatts in sonst bei ihm nicht gewohnter Begeisterung, die Interpretation von Schuberts C-Dur-Symphonie "... wurde vom Publikum mit stärkstem Beifall aufgenommen, auf den Viktor Ullmann trotz seiner großen Erfolge immer noch bescheiden und zögernd reagiert." In dieser Charakteristik des jungen, eben 30-jährigen Dirigenten dürfen wir einen der Gründe für seinen nach dieser einen Spielzeit erfolgten Abschied von der Kapellmeisterlaufbahn sehen. Seine Zurückhaltung und Bescheidenheit und die nie ganz überwundene Scheu vor dem unbefangenen öffentlichen Auftreten (einschließlich der gelassenen Aufnahme des wohlverdienten Applauses) lassen diese Entscheidung verständlich erscheinen. Dahinter steht freilich als weiterer Grund der Wunsch, seine Zeit nicht mehr zwischen dem Dirigieren und dem Komponieren teilen zu müssen. Wieder in Prag, widmete sich Ullmann nun – abgesehen von einigen wenigen Erwerbspflichten – ganz seinen neuen Kompositionen, von denen das Konzert für Orchester in Prag und Frankfurt/Main freundliche Aufnahme, die Schönberg-Variationen für Klavier in Genf aber internationale Beachtung fanden. Die Jahre von 1929 bis 1933 verbrachte Ullmann je zur Hälfte in Zürich (als Leiter der Bühnenmusik am Zürcher Schauspielhaus) und in Stuttgart (als Inhaber des anthroposophischen Novalis-Buchladens). Wie zahlreiche andere Bürger jüdischer Herkunft musste er Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtergreifung verlassen. Unter völlig veränderten persönlichen Umständen nahm er – nach vierjähriger Abwesenheit – Mitte 1933 den Kampf um den Aufbau einer freiberuflichen Existenz in Prag wieder auf: das bescheidene, in den Stuttgarter Buchladen investierte Vermögen war verloren; die alten Verbindungen zum Prager Musikleben mussten neu geknüpft werden; Kompositionsprojekte waren jahrelang liegengeblieben, Pläne für neue Werke reiften erst allmählich. Auch die Stadt hatte sich verändert: abgesehen von beginnenden innenpolitischen Spannungen, die von nun an ständig durch Konrad Henleins Sudetendeutsche Partei geschürt wurden, musste das Gemeinwesen die erste Welle der reichsdeutschen Emigration bewältigen. Während viele Flüchtlinge "nur" durchreisten, versuchten andere, sich für längere Zeit in Prag einzurichten, und gerade von den Neuankömmlingen aus dem musikalischen Umfeld gingen in vielen Fällen anregende Impulse für das einheimische Musikleben aus. Im Zusammenhang mit Ullmann sei auf Leo Kestenberg verwiesen, den Initiator und Organisator der preußischen Schulmusikreform der 20er Jahre. Er war 1934 aus Berlin in die Tschechoslowakei geflohen. In der bald nach seiner Ankunft gegründeten "Internationalen Gesellschaft für Musikpädagogik", die 1936 einen vielbeachteten Weltkongress (unter Selbstausschluss Deutschlands) in Prag abhielt, fand Ullmann Beschäftigung als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Einen anderen Berliner, den Kritiker Hans Heinz Stuckenschmidt, kannte er bereits aus dessen erster Prager Zeit (1928/29) als Rezensent der "Deutschen Zeitung Bohemia". Stuckenschmidt, seit 1937 wieder bei der "Bohemia" angestellt, berichtete unverändert positiv über Ullmanns musikalische Auftritte. Unter den jüngeren ausübenden Künstlern, die seit Beginn der 30er Jahre das Bild der Prager Musikszene mitbestimmten, fanden sich zwei pianistische Talente, auf die Ullmann bald nach seiner Rückkehr aufmerksam geworden sein dürfte. Über Edith Kraus, die Interpretin der vorliegenden Sonaten-Edition, berichtete das Prager Tagblatt Anfang 1930, sie "errang bei ihrem Konzert in Teplitz einen durchschlagenden Erfolg, der nicht nur dem brillanten Spiel, sondern auch der Durchseelung ihres bedeutsamen Programms (Bach, Mozart, Schubert, Chopin) galt". Fast gleichzeitig findet sich – ebenfalls im Prager Tagblatt – eine Notiz über einen der ersten Auftritte Juliette Aranyis, der Widmungsträgerin der 3. Klaviersonate: "Die junge, begabte Klaviervirtuosin [spielte] Mozart, Schubert und Mendelssohn mit persönlicher Auffassung, gesehen durch ein ungarisches Temperament." Ungetrübt blieb Ullmanns lebenslange freundschaftliche Verehrung für Alban Berg. Dokumente zu dieser menschlichen und künstlerischen Verbundenheit haben sich in einer Reihe von Briefen, in einer Hommage zu Bergs 45. Geburtstag und in einem Anfang 1936 veröffentlichten Nachruf erhalten. Einflüsse Bergs machten sich auch in Ullmanns nun in schneller Folge entstehenden Kompositionen bemerkbar. In Melodik, Harmonik und Form der Klaviersonaten, Liederzyklen und insbesondere der großen Oper Der Sturz des Antichrist findet sich manche kongeniale Parallele zum Werk seines "verehrten Meisters". Ullmann pflegte gleichermaßen Beziehungen zu deutschen und tschechischen Musikerfreunden. Beispielsweise war er häufiger und gern gesehener Gast bei Paul Nettl, dem Musikgeschichtsprofessor an der Deutschen Universität, ebenso bei dem Vierteltonkomponisten und unermüdlichen Vorkämpfer für die Moderne, dem "Prítomnost"-Vorsitzenden Alois Hába. Wie sich an der Aufführungsgeschichte seines 2. Streichquartetts nachweisen lässt, fand er auch bei der Auswahl der Interpreten seiner Werke eine bemerkenswerte "nationale" Balance. Er gehörte damit zu den wenigen Vernünftigen, die noch gegen Ende der 30er Jahre für die Zusammenarbeit der Gruppierungen in der aus musikpolitischen und nationalistischen Gründen zunehmend konfliktträchtigen Prager Kulturszene eintraten. Obwohl er mit seinen Kompositionen Beifall von beiden Seiten erntete, stand er mit seiner versöhnlich-integrativen Grundeinstellung quer zu den immer deutlicher auf Konfrontation zielenden Entwicklungen. Und sein unauffälliges Wirken aus dem Hintergrund, jene bedächtige Zurückhaltung in Wort und Tat bewahrten ihn, der spektakulären Aktionen und öffentlichkeitswirksamen Auftritten nach wie vor mit tiefer Skepsis begegnete, nicht vor der persönlichen Katastrophe. Von den mit der Errichtung des "Protektorats Böhmen und Mähren" unter SS- und Gestapo-Regime beginnenden Restriktionen gegen die jüdische Bevölkerung blieben auch die Künstler nicht verschont. Ullmann trotzte dieser Zeit der sich ständig verschärfenden Diffamierung, Ausgrenzung und Verfolgung einige seiner bedeutendsten Werke ab, darunter die 3. und 4. Klaviersonate. Bis zum 8. September 1942, dem Datum seiner Deportation ins KZ Theresienstadt, lebte er zwar noch in Prag; doch dies war nicht mehr die Stadt, die er als eine Stätte der Weltoffenheit, der Schönheit und – der Musik kennen und lieben gelernt hatte. Ingo Schultz
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