EDA 14: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.2: The New Jewish School
VIIII: Joseph Achron – Symphonic Variations and Sonata on a Jewish Theme (1915) Bitte wählen Sie einen Titel, um hineinzuhören
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I: Lazare Saminsky – Danse rituelle du Sabbath (1919)
1 Danse rituelle du Sabbath
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II: Lazare Saminsky – Hebrew Fairy Tale (1919)I: Lazare Saminsky – Danse rituelle du Sabbath (1919) 1 Danse rituelle du Sabbath 2 Hebrew Fairy Tale
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III: Lazare Saminsky – Etude (1919)II: Lazare Saminsky – Hebrew Fairy Tale (1919) 2 Hebrew Fairy Tale 3 Etude
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IV: Alexander Weprik – Three Folk Dances (1928)III: Lazare Saminsky – Etude (1919) 3 Etude 4 No. 1
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IV: Alexander Weprik – Three Folk Dances (1928) 4 No. 1 5 No. 2
EDA 14: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.2: The New Jewish School
IV: Alexander Weprik – Three Folk Dances (1928) 5 No. 2 6 No. 3
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V: Alexander Weprik – Piano Sonata no. 2 (1924)IV: Alexander Weprik – Three Folk Dances (1928) 6 No. 3 7 Sonata no. 2
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VI: Joseph Achron – Dream (1923)V: Alexander Weprik – Piano Sonata no. 2 (1924) 7 Sonata no. 2 8 Dream
EDA 14: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.2: The New Jewish School
VII: Joseph Achron – Welcome (1923)VI: Joseph Achron – Dream (1923) 8 Dream 9 Welcome
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VIIII: Joseph Achron – Symphonic Variations and Sonata on a Jewish Theme (1915)VII: Joseph Achron – Welcome (1923) 9 Welcome 16 Symphonic Variations and Sonata
EDA 14: Across Boundaries: Discovering Russia 1910–1940 – Vol.2: The New Jewish School
VIIII: Joseph Achron – Symphonic Variations and Sonata on a Jewish Theme (1915) 16 Symphonic Variations and Sonata "Die jüdische Nation besitzt einen riesigen melodischen Schatz. Ihre liturgischen Gesänge haben mich zutiefst beeindruckt. Die jüdische Musik wartet auf ihren Genius." – Diese Worte des großen russischen Komponisten und Pädagogen Nikolai Rimsky-Korsakow machten 1902 schnell die Runde in den Korridoren des St. Petersburger Konservatoriums. Sie fielen auf einen fruchtbaren Boden: Wenige Jahre später haben einige junge Musiker, zum größten Teil seine Schüler, eine Renaissance der jüdischen Musik eingeleitet. Die Aufbruchsstimmung kam in jüdischen Kulturkreisen seit den 1860er Jahren auf, als die Reformen des Zaren Alexander II. den Juden erstmals eine beschränkte Integration in die russische Gesellschaft ermöglichten. Allerdings dauerte die liberale Zeit nicht lange. Schon sein Nachfolger, Alexander III., führte neue harte Diskriminierungsmaßnahmen ein. Vierundneunzig Prozent der jüdischen Bevölkerung durfte um die Jahrhundertwende nach wie vor den berüchtigten Ansiedlungsrayon nicht verlassen. Seit 1881 organisierte der russische Geheimdienst in diesem riesigen Reservat (im Westen Russlands) regelmäßige Pogrome, die Tausende von Menschen das Leben kosteten und Millionen zur Auswanderung zwangen. Durch diese Atmosphäre wurde die jüdische Emanzipationsbewegung nachhaltig geprägt. Ähnlich wie die Dreyfus-Affäre im Westen, zerstörten die Pogrome in Russland assimilatorische Illusionen und beschleunigten das Heranreifen eines neuen Nationalgefühls. Um diese Zeit feierte die jüdische Aufklärung (Haskala) bereits ihre ersten großen Erfolge. Vorreiter war die Petersburger Gemeinde. Seit ihrer Gründung um 1860 standen ihr Vertreter der Familie Ginzburg vor. Die Barone Ginzburg – Bankiers, Philanthropen und Mäzene – haben zahlreiche Kultureinrichtungen ins Leben gerufen, die sie in der Regel selbst finanzierten. Die wichtigsten waren wohl die Gesellschaft für jüdische Volksbildung (1863–1929), die mehrere jüdische Schulen und einen eigenen Verlag unterhielt und Tausende jüdischer Studenten materiell unterstützte, sowie die von David Ginzburg (einem international bekannten Orientalisten) gestiftete Jüdische Hochschule. Das Haus Ginzburg in Petersburg wurde zu einem Treffpunkt für russische und jüdische Schriftsteller, Maler und Musiker. Die jüdische Aufklärung in Russland knüpfte zeitlich an die von deutschen Juden begründete Haskala an, unterschied sich aber von ihr beträchtlich. In Deutschland wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Vorstellung verbreitet, dass die Juden kein Volk, sondern nur eine Religionsgemeinschaft seien. Indem die Religion ihre Bedeutung für die aufgeklärten deutschen Juden immer mehr verlor, hielten es viele für möglich und sogar nötig, sie einfach abzulegen und somit auf ihre jüdische Identität zu verzichten. Die Emanzipation wurde schließlich zur Assimilation für einen großen Teil deutscher Juden, die sich mit der Taufe "das entré billet zur europäischen Kultur" (Heinrich Heine) zu erkaufen hofften. Unter den russischen Haskala-Anhängern fanden die assimilatorischen Ideen dagegen ein relativ geringes Echo. Vielmehr gelang es gerade in Russland zum ersten Mal, eine produktive Synthese zwischen der Emanzipationsbestrebung und der Bewahrung eigener Identität zu formulieren: Autoemanzipation hieß das Buch von Leon Pinsker (1882), in dem er die Ideen von Theodor Herzls Judenstaat vorwegnahm. Nach dem Entstehen des Zionismus (1897) wurde Russland zu seinem bedeutendsten Zentrum. Ein neues nationales Selbstbewusstsein bestimmte das russischjüdische Kulturklima dieser Zeit, in dem auch die nationale Schule in der Musik entstand. In Bezug auf die Neue Jüdische Schule wird gern der Begriff "Renaissance" benutzt. In der Tat hatte das jüdische Volk im Altertum eine hoch entwickelte musikalische Kultur, die übrigens später die frühchristliche Musik entscheidend beeinflusste. Wie alles, was mit ihrer Religion zu tun hatte, bewahrten die Juden ihre liturgische Musik in zweitausend Jahren der Zerstreuung, Isolation und Verfolgung hartnäckig auf. "Die Richtung der jüdischen musikalischen Renaissance ist eine entschiedene Hinwendung zum alten hebräischen Melos", schrieb Lazare Saminsky, eine der Schlüsselfiguren dieser Bewegung. Dabei drängt sich unwillkürlich eine Parallele mit dem zeitgenössischen Zionismus auf. Ähnlich wie die Zionisten in der historischen Heimat der Juden einen modernen zivilisierten Staat aufbauen wollten, bemühten sich junge Komponisten, einen modernen Stil zu entwickeln, der in der überlieferten jüdisch-nationalen Tradition verwurzelt war. Im Unterschied zu ihren westeuropäischen Kollegen verloren die jungen jüdischen Künstler in Russland, die erst seit wenigen Jahren den Zugang zu einer professionellen Ausbildung bekommen hatten, noch nicht ihre Bindung an die jüdische Gemeinschaft. Diese mehr als fünf Millionen zählende Gemeinschaft (damals etwa die Hälfte der Weltjudenheit), die noch zum größten Teil in den althergebrachten Traditionen lebte, blieb für sie Nährboden und Inspirationsquelle. Ein wichtiges Vorbild dafür war der russische musikalische Nationalismus. Nicht zufällig gingen viele bedeutende jüdische Komponisten dieser Zeit aus der Klasse von Rimsky-Korsakow hervor. Er war das letzte große Mitglied des "Mächtigen Häufleins", einer Komponistenvereinigung, die in Russland bereits richtungsbildend wirkte. Rimsky-Korsakow, Mussorgsky und Borodin schufen nicht nur einen national orientierten Stil, in der Folklore entdeckten sie außerdem eine ungewöhnlich reiche Erneuerungsquelle der Musiksprache. Dasselbe gelang auch ihren jüdischen Nachfolgern. Am 4. März 1908 wurde der Petersburger Gouverneur um die Genehmigung für eine Gesellschaft für jüdische Musik ersucht. Der zaristische Beamte reagierte zunächst ablehnend ("es gibt keine jüdische Musik"), gab aber schließlich nach ("tatsächlich erinnere ich mich, mal in Odessa ein jüdisches Lied gehört zu haben"), er änderte jedoch den Namen in "Gesellschaft für jüdische Volksmusik". Zu den Mitbegründern gehörten Rimsky-Korsakows Schüler Lazare Saminsky, Schlomo Rosowsky, Michail Gnessin und Alexander Shitomirsky. 1913 zählte die Gesellschaft bereits fast 900 Mitglieder; in einigen Städten wurden Filialen eröffnet. Ihre Tätigkeit konzentrierte sich zunächst auf die Sammlung, Bearbeitung, Publikation und Aufführung der jüdischen Folklore. Daneben entstanden zunehmend auch Originalkompositionen. Für junge Komponisten (es waren etwa fünfundzwanzig) war die Gesellschaft eine Vereinigung der Gleichgesinnten, wo eine vertraute, aber auch diskussionsfreudige Atmosphäre herrschte. Es ist folgerichtig, dass man mit dem Folklorismus in der Tradition des Mächtigen Häufleins begann. Bald stellte sich aber heraus, dass es in der jüdischen Volksmusik schwieriger war als in der russischen, auf die echten nationalen Wurzeln zu stoßen. 1915 entflammte in der jüdischen Presse eine heftige Diskussion zwischen dem Moskauer Musikkritiker und Komponisten Joe1 Engel und Lazare Saminsky. Im Gegensatz zu Engel forderte Saminsky eine differenzierte Behandlung der Folklore. Er betonte die grundlegende Bedeutung der synagogalen Bibelrezitationen - der Singweisen, mit denen im Gottesdienst die Heilige Schrift vorgetragen wird. Auch viele religiöse und weltliche Lieder, wie zum Beispiel die chassidischen, wiesen eine tiefe Bindung an diesen ältesten und authentischsten Teil der jüdischen Musik auf. Manche "niederen" Volksliedarten späteren Ursprungs, wie Hochzeitslieder der wandernden Musikanten (Badchonim) oder der große Teil der Klezmer-Musik, waren dagegen Paraphrasen der Musik anderer Völker und konnten keine Basis für die neue jüdische Musik bilden. 1911–1914 organisierte die Jüdische Historisch-Ethnographische Gesellschaft ein großangelegtes Projekt – die Jüdische Ethnographische Expedition. Sie trug den Namen des kurz zuvor verstorbenen Horaz Ginzburg und wurde von seinem Sohn Wladimir finanziert. Das komplexe Unternehmen koordinierte und leitete der Schriftsteller S. An-ski (Schlomo Rappaport), der später durch sein Theaterstück Dibbuk berühmt wurde. In den entlegenen Gebieten des Ansiedlungsrayons sammelte die Expedition Folklore und Brauchtum aller Art, historische Dokumente, Erzeugnisse des Handwerks und Volkskunst für ein geplantes volkskundliches Museum. (Dieses Museum, sowie die ethnographische Gesellschaft selbst, wurden dann 1930 aufgelöst). An dieser Arbeit beteiligten sich auch die Maler Issachar Ryback und El Lissitzky, die Ornamente und Inschriften von rund 200 hölzernen Synagogen kopierten. Einer der Schwerpunkte war auch die Volksmusik. Sussman Kisselgof, damals Lehrer der Haskala-Schule in Petersburg und ein Protagonist der Gesellschaft für jüdische Volksmusik, brachte 1911 von seiner Reise in die Ukraine eine interessante Liedersammlung mit. Das Schicksal von Kisselgof ist typisch für viele jüdische Intellektuelle und Künstler seiner Zeit. In den dreißiger Jahren war er Direktor der letzten jüdischen Schule in Leningrad. 1938 wurde die Schule geschlossen; Kisselgof wurde festgenommen und starb ein Jahr später an den Folgen der Folterungen. Aus einer Sammlung von Kisselgof stammt auch das Lied in hebräischer Sprache "El jiwneh Hagalil" (Gott wird Galiläa erbauen). Lazare Saminsky bearbeitete es als erster, später folgte eine Version von Michail Gnessin. Ein außergewöhnlicher Erfolg wurden dann aber die Symphonischen Variationen und Sonate über ein jüdisches Thema "El jiwneh Hagalil" (1915) von Joseph Achron. Wenn man bedenkt, dass die junge jüdische Schule bis dahin fast ausschließlich Werke in kleiner Form hervorgebracht hatte (Lieder, kleine Chor- und Instrumentalstücke), kann man verstehen, welches Aufsehen ein Werk im großen konzertanten Stil mit höchsten Ansprüchen an die Virtuosität und das Gestaltungsvermögen des Pianisten verursachte. Mit einem derartig repräsentativen Stück beanspruchte der Komponist offenkundig für die jüdische Musik eine gleichberechtigte Position unter den großen Musiknationen. Das Wort "symphonisch" im Titel bezieht sich zweifellos auf die Symphonischen Etüden in Form von Variationen von Robert Schumann. Achron "überbot" sogar seinen berühmten Vorgänger, indem er den Variationen noch eine Sonate über dasselbe Thema hinzufügte. Achron, damals bereits ein weltberühmter Geiger, wurde 1911 Mitglied der Gesellschaft für jüdische Volksmusik. Schon seine ersten" jüdischen" Werke (darunter die durch Jascha Heifetz weltbekannt gewordene Hebräische Melodie) begnügen sich nicht mit purem Folklorismus, sondern versuchen, das jüdische Idiom in eine eigenständige Musiksprache umzuschmelzen. Die Variationen sind ein weiterer Schritt in dieser Richtung. Das Thema ist mit synagogalen Bibelrezitationen eng verwandt, darauf weisen die psalmodischen Tonwiederholungen hin, sowie die melodischen Wendungen (Tropen), mit denen jedes Motiv endet. Die symmetrisch gegliederte Form und vor allem der strenge marschmäßige Rhythmus sind für chassidische religiöse Lieder typisch. "Das Seltsame ist nämlich, daß diese Lieder einen oft scharf ausgeprägten Marschrhythmus aufweisen, auch dann, wenn der Text die allerhöchsten Dinge, Gott und Ewigkeit, besingt... Sie scheinen mir sehr glücklich die feste, entschlossene, aufrechte Gangart einer gotterfüllten Seele zu symbolisieren. Man sieht gleichsam in unübersehbaren geschlossenen Massen Heere gleichgesinnter Gottesstreiter heranrücken." (Max Brod) Im Variationenteil, der 16 Variationen enthält, ist in seinem farbenfrohen effektvollen Orientalismus deutlich der Geist des Mächtigen Häufleins zu spüren. Exotische Bilder wechseln mit virtuosen Variationen nach Paganinis Vorbild. Alles wird durch das Thema geprägt, das manchmal sogar seine europäisch-ashkenasische Heimat verlässt und erkennbar orientalisch-sephardisch klingt (Variationen 5 und 9). Die 15. Variation könnte mit ihren wuchtigen Akkorden und schwungvollen Glissandi in ihrer Klangfülle mit dem "Großen Tor von Kiew" wetteifern. Sie weicht aber dann der unentschlossenen, träumerischen letzten Variation, die in die Sonate überleitet. Dort dominieren vier neue Gestalten des Volksliedes: ein energischer Marsch als Hauptsatz; der noch schnellere, quirlige Nebensatz, in dem man das Gewirr eines Rummelplatzes heraushören könnte; eine strenge, an Bach oder eher an Achrons Zeitgenossen Tanejew erinnernde sechsstimmige (!) Fuge anstelle der Durchführung und die gewaltige hymnische Coda, in der das Thema eine unerwartete Monumentalität gewinnt. Lazare Saminsky kam durch einen Zufall nach St. Petersburg. Er begann sein Studium in Moskau, wurde aber 1905 wegen der Teilnahme an Studentenprotesten exmatrikuliert und aus der Stadt verbannt. Nach der Gründung der Petersburger Gesellschaft für jüdische Volksmusik avancierte er zu ihrem Sprachrohr. 1913 schloss sich Saminsky der Jüdischen Ethnographischen Expedition an. Er wurde mit dem Sammeln von Volksliedern und religiösen Gesängen der kaukasischen Juden beauftragt. In den von der äußeren Welt abgeschnittenen Bergdörfern entdeckte Saminsky uralte Weisen von einer seltenen Reinheit des Stils. Diese Melodien wurden für ihn seit dieser Zeit eine lebendige Quelle der jüdischen Musik. Wie später unternommene Forschungen zeigten, besaßen die Gesänge solcher isoliert lebender jüdischer Volksgruppen (wie im Kaukasus, in Tunesien oder im Jemen) eine auffallende Ähnlichkeit, die nur auf ihre gemeinsame, möglicherweise zweieinhalb Tausend Jahre alte Herkunft zurückzuführen ist. Die folgenden sechs Jahre verbrachte Saminsky abwechselnd im Kaukasus und in St. Petersburg, bis er 1919 über Konstantinopel nach Palästina reiste. Fast jeder Jude hat eine besondere innere Bindung an Erez Israel, auch wenn er es nie gesehen hat. Für einen Komponisten, der auf der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln war, besaß das Gelobte Land eine besondere Anziehungskraft. Viele Komponisten der Neuen Jüdischen Schule besuchten es in den zehner und zwanziger Jahren; für manche wurde es dann die neue Heimat. Saminsky hielt sich drei Monate in Palästina auf. In Jerusalem komponierte er das Klavierstück Conte hebraïque (Hebräisches Märchen), das ebenso wie die noch in demselben Jahr folgenden (Danse rituelle du Sabbath, Deuxième conte und Etude) eine beträchtliche Reife bezeugt. Trotz ihrer Verschiedenartigkeit haben diese Stücke auch etwas Gemeinsames, woran man nicht nur Saminskys persönlichen Stil, sondern auch den der Neuen Jüdischen Schule erkennt. Diese Musik ist sehr emotional (oft impulsiv und ekstatisch) und dekorativ (mit spürbarer Freude am musikalischen Ornament). Anstelle von Dur und Moll wird auf jüdische Modi (die teilweise Kirchentonarten ähneln) zurückgegriffen. Auffallend ist die Neigung zum dunklen, gedämpften Kolorit (besonders im beliebten "Mogen-Ovos"-Modus), das aber kein Ausdruck der Trauer ist. Ein Kunstkritiker bemerkte 1922 diese Vorliebe der Juden für dunkle Farben: "Die jüdische Frau pflegt ihr allzu buntes, neues Kleid zu waschen, ehe sie es zum ersten Mal anzieht, die russische Bauersfrau dagegen liebt ihr Kleid so bunt wie möglich... Die charakteristisch jüdischen Farben sind samtschwarz, violett, grau und ein blasser Goldton, wie das Echo einer oft erzählten Legende". Das Hauptmotiv des Conte hebraïque ist bestimmt einem Volkslied entnommen. Die einige Monate später in Paris komponierte Etude hat dagegen keinen Bezug zur Folklore. In der dunklen, emotional aufgewühlten Atmosphäre dieses Stücks ist der unregelmäßige, in der Melodie betont deklamatorische Rhythmus besonders wichtig; er verleiht dem ganzen eine improvisatorische Spontaneität. Obwohl der Titel Danse rituelle du Sabbath das nicht ausdrücklich erwähnt, geht es hier bestimmt um eine chassidische Sabbatfeier. Sonst ist es nämlich bei den Juden nicht üblich, den heiligen Sabbat tanzend zu begehen. Im Chassidismus ist das Gebet Ausdruck der Freude, daher spielen Singen und Tanzen im Gottesdienst eine wichtige Rolle. Die Chassiden sind überhaupt bekannt für ihre Musikalität. "Melodien werden erfunden... Ein Wunderrabbi versenkte plötzlich sein Gesicht in die auf den Tisch gelegten Arme und verblieb so unter allgemeinem Schweigen drei Stunden. Als er erwachte, weinte er und trug einen ganz neuen lustigen Marsch vor." (Franz Kafka, Tagebücher) So einen "lustigen Marsch" in dem bei Chassiden beliebten "Aavo rabo"-Modus mit der charakteristischen übermäßigen Sekunde hört man als Thema von Saminskys Stück. Dieses Thema wird mehrmals variiert, wobei es abwechselnd mit schweren Akkorden stampft oder wie züngelnde Flammen in die Höhe schießt. Was bei Chassiden besonders deutlich wird, ist für die jüdische Religion überhaupt typisch: Kultus und Musik sind so eng miteinander verwachsen, dass nur singend gelesen und gebetet wird. Das rituelle Singen wird durch ein kompliziertes, sehr verzweigtes System von strengen Regeln organisiert, die schon die Kinder in den jüdischen Religionsschulen lernen. Diese Regeln sind vermutlich so alt wie die hebräische Bibel selbst. Viele Jahrhunderte mündlich überliefert, wurden sie um 600 n. Chr. kodifiziert und in Form von speziellen Zeichen fixiert. Diese Zeichen haben im Hebräischen mehrere Namen und entsprechend viele Funktionen: sie gestalten den Text syntaktisch und logisch und tragen dadurch auf vielfältige Weise zum besseren Verständnis bei. Darüber hinaus bedeutet jedes Zeichen entweder ein musikalisches Motiv oder eine Zäsur zwischen den Motiven. Sie werden im jüdischen Ritus Tropen genannt. Obwohl es sehr schwer ist, die Tropen in Noten festzuhalten, weil sie im orientalischen nicht temperierten System gesungen und dabei ständig variiert werden, wurden sie in Werke vieler jüdischer Komponisten integriert. Dazu gehört auch die Kindersuite von Jospeh Achron (Berlin 1923). Das sind zwanzig hübsche Miniaturen, die die Bilder der Kinderwelt darstellen. Die meisten sind leicht genug, um auch von Kindern gespielt zu werden. Diese von Charme und Witz beseelten kleinen Stücke wurden für Achron zu einem Laboratorium, in dem er sich mit jüdischen Tropen auseinandersetzte. Wichtiger als konkretes Zitieren war ihm die Erfindung von Motiven in der Art von Tropen. Wie kleine Bausteine im Spiel werden sie aufeinandergesetzt und wieder auseinandergenommen. Die in demselben Jahr komponierten Klavierstücke Traum und Begrüßung sind viel anspruchsvoller. Verschiedene Arten des synagogalen Musizierens – einfache Tropen, Psalmodien, leidenschaftliche Ornamentik des Kantorengesangs (Chasanut) – sind auf eine kunstvolle Weise miteinander verschmolzen. Die Begrüßung ist frei angelegt. Ihre Form ist flüssig, lebendig und kennt keinen Symmetriezwang – eine Improvisation, die den feinsten Bewegungen der Seele nachspürt. Die beiden Stücke sind in harmonischer Hinsicht sehr interessant. Das jüdische Melos ist grundsätzlich einstimmig, es enthält keine Voraussetzungen für eine mögliche Begleitung und widerstrebt Harmonisierungsversuchen. In der Vergangenheit sind die überlieferten jüdischen Melodien oft ins Korsett der europäisch-romantischen Harmonie gezwungen worden, wobei ihre Eigentümlichkeit unwiederbringlich verloren ging. Die einzige Lösung war eine "nichtharmonische Harmonisierung" (Saminsky). Das heißt, die Begleitung wurde so gestaltet, dass sie der linearen Natur der Melodie nicht widersprach und vor allem keine tonalen Bindungen provozierte. Bei Achron fallen dabei die sich parallel bewegenden Sept-und Nonenakkorde sowie Orgelpunkte auf, die impressionistisch und statisch wirken und die die leidenschaftliche Melodie ideal ergänzen. Der junge Alexander Weprik entwickelte ein originelles Tonsatzsystem in seiner 2. Klaviersonate (1924). Die einsätzige Komposition ist konsequent auf dem linearen Prinzip aufgebaut. Die Form und die tonalen Verhältnisse folgen zwar dem klassischen Sonatenhauptsatz-Schema, es handelt sich hier dennoch nicht um europäische Tonarten, sondern um jüdische Modi. Zwei Elemente dominieren in der Sonate: aus der Bibelrezitation abgeleitete, erregt pulsierende Tonwiederholungen, sowie ein Leitmotiv, das in vielen liturgischen Melodien und religiösen Liedern zu finden ist (auch "El jiwneh Hagalil" wird von ihm beendet). Die beiden Elemente werden oft miteinander verknüpft. Ihre viermalige, mit gewaltiger Kraft drängende Durchführung im Mittelteil (Fortissimo trionfante) markiert den Höhepunkt der Sonate. Mit dem sich kräftig behauptenden Leitmotiv wird das Werk auch beendet. Seine spannungsvolle, mitunter geradezu explosive Stimmung wird durch die ekstatische Deklamation in der Melodie geprägt, während der Hintergrund mit großen, funktional unbestimmten Harmoniefeldern und langen Orgelpunkten den ausgleichenden statischen Aspekt dieser Musik verkörpert. Weprik vertrat die nächste Generation der Neuen Jüdischen Schule. Er war noch ein Kind, als die Gesellschaft für jüdische Volksmusik gegründet wurde. Gerade um diese Zeit floh seine Familie vor den Pogromen nach Deutschland. Als Wunderkind ins Leipziger Konservatorium aufgenommen, musste Weprik sein Studium 1914 nach dem Ausbruch des Weltkrieges unterbrechen. Er nahm es erst wieder 1919 in St. Petersburg (damals Petrograd) auf. Sein Lehrer am Petrograder Konservatorium war Alexander Shitomirsky, ein Mitbegründer der Gesellschaft für jüdische Volksmusik. Es ist anzunehmen, dass Weprik gerade durch ihn zur Beschäftigung mit jüdischer Musik angeregt wurde. Zwischen 1922 und 1928 erschienen zwölf Kompositionen verschiedener Gattungen, in denen das jüdische Idiom die Grundlage einer durchaus modernen Musiksprache bildet. Das letzte Werk in dieser Reihe sind Drei Volkstänze (1928). Im ersten Teil dieser kleinen Suite erkennt man mühelos das Lied "El jiwneh Hagalil". Nach dem lyrischen, nachdenklichen zweiten Teil erscheint das einstimmige, wie von einer Klezmer-Klarinette gespielte Thema des letzten Tanzes umso mitreißender. Es ist fraglich, ob der Komponist, als er dieses großartige, kraftvolle Stück schuf, ahnte, dass die Geschichte der Neuen Jüdischen Schule auf ihrem heimatlichen Boden in Russland bald beendet sein würde. Schon ab Ende der zwanziger Jahre war die antisemitische Tendenz der stalinistischen Kulturpolitik unmissverständlich. Nach 1930, als der Staatsterror rapid eskalierte, wagte kein jüdischer Komponist mehr, sich dieser Tendenz entgegenzustellen. Die jüdische Kultur in Russland wurde in den dreißiger Jahren auf ein für Repräsentationszwecke notwendiges Minimum reduziert und dann in den Jahren 1948 bis 1953 völlig vernichtet. Wie viele andere jüdische Komponisten wurde Weprik zum musikalischen Aufbau in kleinen sowjetischen Nationalrepubliken mobilisiert – ein Unternehmen, das der Welt zeigen sollte, wie die nationalen Kulturen im Sozialismus aufblühten. Weprik spezialisierte sich auf kirgisische Musik, sein Werkverzeichnis ist mit derartigen Titeln dicht gefüllt. Die jüdischen Musiker, die rechtzeitig emigrieren konnten, versuchten, die Aktivitäten der Gesellschaft für jüdische Volksmusik im Ausland wieder zu beleben. So wurden in Berlin und Jerusalem sogar jüdische Musikverlage gegründet. Aber ohne ein breites engagiertes Publikum war die Bewegung zum Aussterben verurteilt. Obwohl einzelne Komponisten auch im Ausland organisatorisch aktiv waren (Saminsky in Amerika, Engel in Palästina), konnten sie diese Tradition nur sehr begrenzt weitervermitteln. Mit dem Tod ihres letzten bedeutenden Mitglieds, Lazare Saminsky (1959), hörte auch die Existenz der Neuen Jüdischen Schule auf. Ich möchte nun hoffen, dass diese Aufnahme dazu beiträgt, das Interesse an dieser faszinierenden Musik erneut zu wecken. Jascha Nemtsov
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